Monate waren vergangen, seitdem Gott die Sprachverwirrung geschickt hatte und Amananunna hatte seine Sprache noch nicht gefunden. Es war, als laste ein Fluch auf seiner Schicksalslinie. Woche um Woche wanderte er um den Fuß des großen Zikkurat-Turms von König Nimrod, dem Auslöser von Gottes Zorn. Er strengte seine Ohren an, bemühte sich redlich, die Laute aus den Mündern der ihn umgebenen Menschen wahrzunehmen. Nicht die Bedeutung eines einzigen Lautes erschloss sich ihm. Eine Sprache war völlig anders als die des nächsten Vorübergehenden. Oft nahm er nur Strukturen wahr, die er weder begreifen noch nachsprechen konnte. Alles klang nur wie unkoordinierter Lärm, der eher störend wirkte, verstörend, da es für Amananunna keinen Sinn ergab. Voller Ärger versetzte er dem Fuß des Zikkurat-Turms, Symbol für die Hybris König Nimrods, einen Tritt. Drei Wochen blieb er im Lande Babylon, doch nicht eine Sprache der Menschen hier klang seinem Ohr vertraut. Er wunderte sich jedoch, dass die Leute in seiner Umgebung ihre Sprachen weiterhin eifrig benutzten, obwohl niemand sicher sein konnte, ob der Nachbar die eigene Sprache verstand. Er fragte sich, wie es sein könne, dass er offensichtlich der einzige Mensch war, dessen Ohr und Mund sich nicht in Harmonie mit auch nur einem einzigen anderen Menschen dieser Gegend befand. Einmal wollte er sein Sprachvermögen testen, versuchte am Rande des Marktes die Worte eines eloquenten Marktleiters nachzusprechen. Das Ergebnis war ernüchternd. Der Marktleiter verstand nicht, was er sagte. Dessen Antwort wiederum ergab für Amannunna keinen Sinn. Schließlich beschloss Amananunna auf Wanderschaft zu gehen, in der Hoffnung eine Sprache zu finden, die mit seinem Mund und seinem Ohr im Einklang war. Er durchquerte Wüstengebiete und bezwang eine Reihe von Bergen. Das Land der Lullubi. Die Stadt Hamazi. Uri-ki. Susin. Schubur. Er erreichte das Land der Mar-tu. Dilmun. Er gelangte sogar zu den namenlosen Stämmen im Land Anshan. Hunger und Erschöpfung musste er durchstehen. Manchmal, wenn ihm das Schicksal wohlgesonnen war, bekam er ein Stück Wild oder süßes Gebäck von freundlichen Nomaden, auf die er traf – mit ihnen kommunizierte er unter Zuhilfenahme seiner Körpersprache, nicht etwa seines Mundes. Denn die Forderungen seines Magens duldeten keinen Aufschub mehr: Einmal hatte er in seiner Not schon Gras vom Wegesrand gegessen, ein Wüstenreptil, sogar Kadaver, die noch einen essbaren Eindruck machten. All dies nahm Amananunna auf sich in der Hoffnung, seine Sprache wiederzufinden. Doch nicht eine der Sprachen, auf die er traf, harmonisierte mit seinem Ohr. Sein Ohr fühlte sich verflucht, weil es nicht mehr die Macht besaß Worte wahrzunehmen. Er war doch nicht taub. Einige Leute hatten ihn auch schon für taub gehalten. Seine Ohren konnten zwar Laute wahrnehmen, aber keine Wörter. Andere bezeichneten ihn als einen Idioten. Ein weiteres Mal war er von einem Stamm, der am Fuße eines Berges wohnte, vertrieben worden, weil sie glaubten, er bringe Unglück. Trotz alledem setzte er seine Wanderschaft fort. Er ging immer weiter auf der Suche nach seiner Sprache. Das Land Schinar hatte er bereits hinter sich gelassen. Als er wenig später die Gelegenheit erhielt, auf einem Fischerboot mitgenommen zu werden, war seine Fähigkeit, sich mit Gebärden auszudrücken, durch die Erfahrung schon gut geschult – und die großen, zwischen den Booten ausgebreiteten Netze spendeten dem Wasser Schatten. Er erreichte die Städte Eridu. Uruk. Ur. Samarra. Den Fluss Tigris. Und schließlich die Länder am Mittelmeer. Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war. Er wusste nicht, bis wohin er inzwischen vorgedrungen war, fühlte sich ausgelaugt. Da setzte er sich auf einen Stein in einer Gegend, von der er keine Vorstellung hatte. Eine steile Schlucht tat sich vor ihm auf. Ärgerlicherweise öffnete sich die Schlucht zur falschen Seite, so dass sie seinem Körper keinen Schutz vor der stechenden Hitze des Tages gab. Der Schweiß brach aus ihm heraus, strömte von seiner Stirn herab; einige Tropfen, die auf seinen Lippen Halt machten, schluckte er absichtlich hinunter, andere ließ er auf die heiße trockene Erde tropfen. Irgendwie spürte er das Geräusch der den Boden berührenden Schweißtropfen. Es klang wie eine Art Gähnen in seinem Ohr. Plötzlich entwich seinem Gehörgang heiße Luft – und flüsterte! Sprache! In der nächsten Sekunde gelangte er wieder zu Bewusstsein. Sein Körper lag ausgestreckt auf dem unfruchtbaren Land. Die stechenden Sonnenstrahlen trafen noch immer auf seine schon glühenden Wangen. Die Sandkörner drangen in die Poren seines Gesichtes ein. Zum ersten Mal fühlte er eine Art von Erleuchtung. Amananunna fasste einen Entschluss: er würde eine eigene Sprache schaffen.
Mit diesem neuen Ziel setze er seine Wanderschaft fort. Er erfand eigene Wörter, inspiriert von dem, was er sah und hörte. Nicht selten schuf er ganz plötzlich ein neues Wort. Ein andermal nahm er ein Wort, das er irgendwo aufgeschnappt, aber nicht verstanden hatte, experimentierte ein bisschen mit dem Klang und machte es in abgewandelter Form zu einem Wort seiner eigenen Sprache. Er wanderte von Stadt zu Stadt, von Volk zu Volk, von Land zu Land, nicht nur um seine Sprache weiterzuentwickeln, sondern auch um seinen mündlichen Wortschatz zu verbreiten. Denn was für einen Sinn hätte eine Sprache, wenn er der Einzige wäre, der sie spräche. Doch wie hätte Amananunna dies bewerkstelligen sollen? Er war doch nur ein armer, unglücklicher Wanderer inmitten eines Dschungels fremder Sprachen, die schon ihre Berechtigung erlangt hatten. Die Leute, denen er seine Sprache anzubieten versuchte, hielten ihn entweder für verrückt oder dumm. Niemand schenkte ihm Beachtung, nahm ihn ernst. Wie konnte er seine Sprache in diesem Wald von ihm unverständlichen Sprachen verbreiten? Im fehlte die göttliche Macht dazu. Amananunna versank in tiefes Nachdenken. Amananunna begann am Rande eines Flusses in der Nähe einer Stammessiedlung darüber zu meditieren. Er betrachtete die Strömung des Flusses und die Sonnenstrahlen, die in die Wellen des Flusses eintauchten. Die Reflexion seines Gesichtes wippte auf und ab. Nur sein Schatten blieb unverändert. Neben dem Schatten eines anderen Menschen. Ein anderer Mensch! Neben ihm stand eine Frau! Wirklich, noch nie hatte er einen solchen Liebreiz gesehen! Die attraktive Gestalt war in schneeweißen Stoff gehüllt; ihr welliges Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Sie lächelte für einen Moment und ihre Augen begegneten sich. Die Frau war zum Fluss gekommen, um ihren Durst zu löschen. Wahrscheinlich war sie auch auf Wanderschaft. Mit einem Zweig ritzte Amananunna ein neues Schriftzeichen in die feuchte Erde: ↭. So entdeckte er das Wort für „Liebe”. Sie reagierte mit einem Lächeln und strahlte schließlich selbstvergessen über das ganze Gesicht. Kurz gesagt, Amananunna wurde seine Gefährtin auf der Wanderschaft. Und dieser Frau, deren Namen er nicht kannte, hatte er – entsprechend der von ihm geschaffenen Schrift und Sprache – den Namen Manatumanna gegeben und sie erwiderte seine Liebe. Er lehrte sie seine Schrift und Sprache. Aus Liebe verzichtete sie ohne Bedauern auf ihre bisherige Schrift und Sprache. Amananunna war überzeugt davon, dass sie ein göttliches Wunder war, eine Brücke für das Fortbestehen seiner Sprache. Während einer Rast auf ihrer Wanderschaft liebten die beiden sich im segensreichen Schutz von Inanna – der Göttin der romantischen Liebe und der Fruchtbarkeit. Nach der ein oder anderen Ruhepause barg Manatumanna etwas in sich, was ihr Nachwuchs werden würde. Amananunnas Freude darüber war übergroß. Er hatte den Fortführer seiner Sprache schon vor Augen. Wegen dieser Aussichten ließen die beiden sich im Dorf eines Stammes nieder, dessen Namen sie nicht auszusprechen vermochten. Viele Wochen später war die Zeit der Geburt gekommen. Sie gaben ihrem Sohn den Namen Ilanumanna, entsprechend der Schrift und Sprache Amananunna. Einige Wochen später setzten sie ihre Wanderung mit dem neuen Familienmitglied fort. Von Stadt zu Stadt, von Volk zu Volk, von Land zu Land. Ab und zu boten sie den Leuten, denen sie begegneten, ihre Sprache an, aber ohne Erfolg. Sie wussten nicht, wie lange sie schon umherzogen, wie viele Ruhepausen sie schon eingelegt hatten, wie viele Nächte sie den segensreichen Schutz von Inanna schon genossen hatten. Die beiden kümmerte es nicht, wenn sie hungrig oder erschöpft waren. Unterdessen wuchs Ilanumanna heran, wurde größer, stattlicher und schöner. Mit seinem Talent zur Jagd und mit seinem Körperbau übertraf er Amanannunna bei weitem. Auf Wunsch seines Vaters brachten die Eltern dem Jungen die Schrift und die Sprache Amananunnas bei und keine andere.
Nach einer unbestimmten Zeit beschenkte die Göttin Inanna sie mit einem zweiten Segen. Amananunnas zweiter Sohn kam zur Welt und erhielt den Namen Ilalumanna. Amananunna hegte für seinen zweiten Sohn ebensolche Hoffnungen wie für den Erstgeborenen. Leider ging diese Hoffnung zu weit. Ilalumanna war ein schwacher und kränklicher Junge. Anstatt sich an der Jagd zu beteiligen, half er seiner Mutter bei leichten Arbeiten. Zwei Gründe, das Bemühen um Sicherheit und Wohlergehen und die Angst vor dem Einfluss anderer Sprachen, veranlassten Amananunna zu dem Entschluss, seine eigene Siedlung zu gründen. Als Ort wählte er die Ebene am Rande der Schlucht, wo er die geflüsterte Eingebung gespürt hatte, eine neue Sprache zu schaffen. Nach seiner Erinnerung gab es dort in der Nähe einen Fluss und eine Wiese, die ihnen als Lebensquelle dienen würde. Nun wohnten sie schon einige Jahre dort, jagten, bauten Gemüse an, züchteten Kühe und Schafe. Doch es gab noch einen Gedanken, der Amananunna Sorgen bereitete: Nachwuchs. Die Fortführung ihrer Familie war für den Fortbestand der Sprache unerlässlich. Doch Inanna bedachte sie mit keinem weiteren Kindersegen. Er hatte keine Tochter, die einer seiner Söhne theoretisch hätte heiraten können. Sein eigener Körper war schon in die Jahre gekommen. Er spürte, dass er bald etwas unternehmen musste. Da befahl er seinem ältesten Sohn, der von Tag zu Tag männlicher und attraktiver wurde, sich in der nächsten Stadt eine Frau zu suchen. Ilanumanna war einverstanden und beeilte sich, den Auftrag seines Vaters zu erfüllen. Pech für Ilalumanna, dass er jetzt zusätzlich die Pflichten seines älteren Bruders übernehmen musste. Wochen, Monate, ich weiß nicht wie viel Zeit schon vergangen war, doch Ilanumanna brachte keine Verlobte nach Hause. Da reiste Amananunna in die Stadt, die Ilanumannas Ziel gewesen war, und musste dort feststellen, dass sein Sohn Schrift und Sprache des Vaters schon nicht mehr verstand. Ilanumanna hatte aus Liebe zu seiner Frau Schrift und Sprache seines Vaters aufgegeben. Amananunna konnte seine Enkel zwar betrachten, aber sein Wissen nicht an sie weitergeben. Sein Ohr und seine Zunge hatten innerhalb seiner eigenen Nachfahren die Kraft verloren. Amananunna kehrte ohne jede Hoffnung nach Hause zurück. Wegen der übermäßigen Aufgaben in Haus und Hof wurde der jüngere Sohn von Tag zu Tag schwächer und kränker. Amananunna konnte in seinen Jüngsten keine Hoffnung mehr setzen. Doch er wollte keinesfalls hinnehmen, dass die von ihm geschaffene Sprache einfach so verloren ging. Amananunna unternahm eine letzte Anstrengung. Der alte Mann ritzte die Buchstaben seiner Sprache in die Wände der Schlucht, in die Felsen, in Höhlenwände. Wenigstens würde er so die Spuren seines Schriftwerkes der Nachwelt hinterlassen.
Surakarta, 19 November 2012
Übersetzt aus: Rio Johan: Aksara Amananunna. Paperback, 240 Seiten; April 2014, Kepustakaan Populer Gramedia
© Rio Johan, Gudrun Ingratubun