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Felix K. Nesi: (AT) Die Leute von Oetimu

Kapitel I

Oetimu, 1998

Am Abend des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft und eine Stunde bevor die Killer sich Zutritt zu seinem Haus verschafften, wurde Martin Kabiti von Sergeant Ipi mit dem Motorrad abgeholt. Das Motorrad, eine Yahmaha RX King, war frisiert worden und nun verstärkte der Auspuff die Motorengeräusche zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, das die Häuser der armen Leute erzittern ließ, die Hunde zum Bellen brachte und die Fledermäuse in den Wipfeln der Kapokbäume aufscheuchte. In der kühlen Abendluft hatten sich feine Nebelschleier zwischen den Bananenstauden verfangen und sich auf den Oberflächen der Blätter niedergeschlagen, sodass diese im Scheinwerferlicht des Motorrads silbrig schimmerten. Drei Hunde jagten dem Gefährt hinterher, und als einer von ihnen Sergeant Ipi beinahe ins Bein gebissen hätte, ließ dieser sein Motorrad noch stärker aufheulen, als wolle er die dürren Kläffer herausfordern. Es war dies ein glücklicher Abend für ihn. Er hatte bereits alle Vorbereitungen für ein bescheidenes Gastmahl in der Polizeiwache, in der arbeitete und lebte, getroffen. Es würde Rica Anjing, Gulasch aus Hundefleisch, gegrilltes Schwein, Reh und allerlei Getränke geben, und zwar solche mit den offiziellen Zollaufklebern auf der Flasche, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, als auch Sopi Kepala, das Gebräu, das man hier im Dorf bekam.

„Lass uns das Endspiel gemeinsam ansehen. Komm zu mir und freue dich mit mir!“, so lautete die Einladung, die er zwei Tage zuvor an Martin Kabiti gerichtet hatte.

Sergeant Ipis Einladung galt aber nicht nur Martin Kabiti. Er hatte zwei Schuljungen aufgetragen, allen Männern im Dorf, angefangen von den Oberschülern ohne Bartwuchs und Motorradtaxifahrern über die Unruhestifter und Kleinganoven, die nicht selten Schläge von ihm einzustecken hatten, bis hin zu den Dorfältesten und honorigen Herren von seinem Gastmahl zu berichten. Martin Kabiti einzuladen war für ihn jedoch etwas ganz Besonderes und er fühlte sich verpflichtet, diesen Mann persönlich mit seinem Motorrad abzuholen.

Martin Kabiti, der schon vor Längerem den bewaffneten Kampf an den Nagel gehängt hatte und keinen Gedanken an die Möglichkeit eines bevorstehenden Unheils verschwendete, zog sich seine dicke Jacke mit Tarnmotiv über, die er noch aus der Zeit besaß, als er am Berg Matebian Jagd auf Aufständische machte, steckte seine Füße in schwarze Socken und in Carvil-Sandalen, nahm seinen Hausschlüssel und eilte aus dem Haus. Seine Frau ließ ihn ohne die leiseste Vorahnung ziehen, und seine Kinder schliefen bereits tief und fest, in den Schlaf gesungen vom Chor der Zikaden und der nachtaktiven Tiere der Wildnis. Martin Kabiti nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Auf dem gesamten Weg zur Polizeiwache überholten sie junge Männer in Jacken und alte Männer in Sarongs, die man hier bete nannte, sie alle eilten zu Fuß in dieselbe Richtung. Ein anderes Motorrad, besetzt mit zwei Soldaten von der Grenzwache, heulte hinter ihnen auf. Der Fahrer beschleunigte, so wie er das Dröhnen der RX King von Sergeant Ipi erkannte. Martin Kabiti hatte die beiden Soldaten eingeladen. Er hatte ihnen schon mehrere Male geraten, sich der zivilen Bevölkerung anzunähern. Und dieser Abend bot eine besonders günstige Gelegenheit dafür, denn so würden sie sich unter die Dorfbewohner mischen und ihre Begeisterung für dieselbe Sache mit ihnen teilen können. Die beiden Motorräder fuhren das letzte Stück des Weges nebeneinander her, und die Männer aus dem Dorf, an denen sie vorbeifuhren, hoben  respektvoll grüßend die Hand.

Die Leute von Oetimu hatte das Fußballfieber gepackt. Allabendlich versammelten sie sich vor dem Fernseher und feuerten die Männer an, die auf dem grünen Rasen einem Ball hinterherjagten. Sie schnitten sich die aktuellen Spielpläne aus der Zeitung aus und klebten sie an die Wand im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer oder sogar in der Hütte auf dem Feld; sie machten mit dem Bleistift ein Zeichen hinter dem Land, welches bereits ein Spiel verloren hatte, und ein anderes Zeichen hinter dem Land, welches ihrer Meinung nach noch ein Spiel verlieren würde. Sie hatten einen Favoriten, von dessen Sieg sie fest überzeugt waren, nämlich Brasilien, denn abgesehen davon, dass die brasilianischen Fußballer spielten als würden sie tanzen, besaß die brasilianische Elf  einen unbezwingbaren Stürmer: Ronaldo Luis Nazário de Lima. Die Leute vergötterten Ronaldo, sie nannten ihre Hunde Ronaldo und auch andere Tiere in Haus und Hof, und wenn Brasilien spielte, blieben in den Häusern nur die Frauen und Kinder zurück, während die Männer, jung und alt, sich vor dem Fernseher versammelten und ihrem Idol zujubelten.

Im Dorf gab es bereits drei Fernsehgeräte. Eines in der Polizeiwache, eines im Haus von Mas Zainal und eines im Haus von Baba Ong, dem Besitzer des Ladens Subur. Baba Ong war ungemein geizig und würde die Leute aus dem Dorf niemals in sein Haus lassen, außer sie wollten etwas bei ihm kauften. Er besaß lange, blickdichte Vorhänge, die den Fernseher im Wohnzimmer vor den Augen der Kinder, die gerne durch seine Fenster linsten, abschirmte. Mas Zainal hatte derart vorstehende Zähne, dass er jedem Besucher seines Hauses den Eindruck vermittelte, er würde ihn freundlich anlächeln. Allerdings war Mas Zainal Alteisensammler, und in seinem Haus fernzusehen bedeutete, sich zwischen verrosteten und scharfkantigen Eisenwaren sowie gebrauchten Akkus und Batterien zu zwängen. Zudem herrschten starke Gerüche vor: Der Duft nach Essen drang aus der Küche und machte hungrig, aber gleichzeitig wurde einem von dem Gestank nach Öl speiübel. Tatsächlich wäre es allen am liebsten gewesen in der Polizeiwache fernzusehen – auf der geräumigen Fläche des Fußbodens würde man sich mit ausgestreckten Beinen fläzen können, zur Abwechslung könnte man sich gegen die glatt verputzte Wand lehnen, und, falls keine wichtigen Leute anwesend waren, könnte man sich auf das weich gepolsterte Sofa setzen – doch der Fernseher in der Polizeiwache wurde üblicherweise nur für wichtige Leute wie Martin Kabiti, die Dorfältesten, Lehrer oder andere respektable Persönlichkeiten eingeschaltet. So hatten die gewöhnlichen Leute, wenn sie fernsehen wollten, keine andere Wahl als sich im Haus von Mas Zainal umgeben von allerlei Eisenschrott und unangenehmen Gerüchen zu versammeln.

Den Männern hatte Sergeant Ipi daher mit seiner Einladung, an diesem Abend bei ihm in der Polizeiwache fernzusehen, eine riesengroße Freude bereitet. Umso größer war ihre Freude, als sie von der üppigen Auswahl an Fleischspeisen und Getränken erfuhren, die der junge Polizist bereits besorgt hatte. Die Männer strömten also in Scharen herbei, und auch Mas Zainal schaltete sein Fernsehgerät aus und machte sich auf zur Polizeiwache, um dort fernzusehen.

Als die beiden Motorräder nebeneinander in den Hof der Polizeiwache einfuhren, hatte sich dort bereits eine erwartungsvolle Menschenmenge versammelt, die Männer rauchten oder kauten Betel. Die Polizeiwache war zu klein als dass man sie Polizeirevier hätte nennen können, aber auch zu groß als dass man sie Polizeiposten hätte nennen können. Das Gebäude war aus Stein gebaut und verfügte über zwei Räume, einen Raum im hinteren Bereich, in welchem Sergeant Ipi schlief, und einen deutlich größeren Raum, den er zum Arbeiten nutzte. In letzterem schrieb er seine Berichte, sah fern, empfing Gäste und hier aß er auch.

aus: Felix K. Nesi: Orang-Orang Oetimu, CV Marjin Kiri, Tangerang 2019, Übersetzung von Sabine Müller

© Sabine Müller

Eka Kurniawan: Auszug aus dem Roman „Tigermann“

Zwei

Der Tiger war weiß wie ein Schwan und zugleich scharf und mitleidslos wie ein Rothund. Mameh hatte ihn einmal für einen kurzen Augenblick gesehen, wie er, einem Schatten gleich, Margios Körper verließ. Davor und auch danach hatte sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Aber es gab ein Anzeichen, das sie wissen ließ, dass der Tiger noch in ihm war. Mameh kannte es gut, aber sie wusste nicht, ob andere Leute es auch sahen. Erkennbar war es nur in der Dunkelheit, wenn Margios Augen plötzlich katzengelb aufblitzten. Anfänglich hatte Mameh vor diesen Augen Angst, und noch mehr fürchtete sie, dass der Tiger nach draußen springen würde, aber mit der Zeit legte sich diese Furcht, und weil sie zu oft schon dieses in der Dunkelheit aufleuchtende Augenpaar gesehen hatte, war ihr nicht mehr bang. Er war kein Feind, der sie verletzen würde, im Gegenteil, der Tiger war wahrscheinlich da, um sie zu beschützen.

Margio selbst war ihm zum ersten Mal an einem Morgen begegnet; das war vor einigen Wochen gewesen, noch bevor er von zuhause fortgegangen war. Er hatte als einziger im Gebetshaus übernachtet, und als er am Morgen aufgewacht war, hatte kein Tablett mit dampfend heißem Kaffee neben ihm gestanden oder gar ein Teller mit Frühstücksreis – nein, vielmehr hatte neben ihm ein weißer Tiger gelegen, der sich die Pranken leckte. Margio war aufgewacht, weil dessen Schwanz vergnügt hin und her wippte und dabei seine nackten Füße traf, ganz so, wie wenn ihm Ma Soma mit der Hand leicht auf die Füße klopfte, um ihn für das Frühgebet zu wecken. Aber draußen war es schon hell gewesen, und der Regen hatte der Welt ein tiefgraues Gesicht gegeben – offenbar hatte es in der Nacht so stark gegossen, dass kein Mensch in der Morgendämmerung das Gebetshaus aufgesucht hatte. Natürlich hatte Margio sich ziemlich erschreckt, der Anblick hatte ihn so überwältigt, dass er nur still innehalten und voll Verwunderung auf dieses mit sich selbst beschäftigte mächtige Tier starren konnte.

Er wusste, dass das Tier nicht wirklich lebte. Während der zwanzig Jahre, die er jetzt schon auf Erden war, hatte er schon so häufig den Urwald am Rande der Stadt durchquert, aber noch nie war ihm solch ein Tier begegnet. Da gab es kleine Baumleoparden, Wildschweine und Rothunde, aber nie einen weißen Tiger fast so groß wie ein Rind. Er erinnerte ihn an seinen Großvater vor vielen Jahren. Ihm traten Tränen in die Augen, und er streckte ganz langsam seine Hand aus, um die vordere Pranke des Tigers kurz zu berühren. Sie lag tatsächlich als ein greifbares Ding da, mit einem Fell so weich wie ein Staubbesen, die Krallen eingezogen wohl als Freundschaftsangebot. Nun hatte er die zweite Pranke leicht angehoben, und Margio streckte erneut seine Hand aus, worauf der Tiger seine Pfote hin und her bewegte, wie ein junges Kätzchen, das spielen will. Margio versuchte geschickt zuzugreifen, aber der Tiger rollte sich auf den Rücken und wich aus, stellte sich unerwartet auf die Hinterbeine zum Angriff bereit, und bevor Margio sich in Sicherheit bringen konnte, stürzte er sich auf ihn, warf ihn zu Boden und rollte sich dort mit ihm, ließ dann aber von ihm ab, da Margio dem Gewicht nicht gewachsen war. Margio blieb liegen, der Tiger setzte sich neben ihn und putzte wieder seine Pranken. Da klopfte Margio ihm zart auf die Schulter und sagte:

„Großvater?“

Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke aus: Eka Kurniawan: Tigermann. OSTASIEN Verlag (Reihe Phönixfelder 30), Gossenberg, 2015, (ISBN: 978–3-940527-92-9)

© OSTASIEN Verlag

Eka Kurniawan: Auszug aus dem Roman „Schönheit ist eine Wunde“

1

An einem Wochenendnachmittag im März und einundzwanzig Jahre nach ihrem Tod erhob sich Dewi Ayu aus ihrem Grab. Ein Hirtenjunge, der sein Mittagsschläfchen unter einem Frangipanibaum gehalten hatte, wachte auf, machte sich in seine kurzen Hosen und begann zu schreien, derweil seine vier Schafe panisch zwischen den Grabmalen aus Stein oder Holz umherrannten, als sei plötzlich ein Tiger in ihre Mitte gesprungen. Alles begann mit lauten Geräuschen aus dem Inneren eines alten Grabes, das jeder, trotz des namenlosen und kniehoch mit Gras überwucherten Steins, als die letzte Ruhestätte von Dewi Ayu kannte. Da sie im Alter von zweiundfünfzig Jahren gestorben und nach einundzwanzig Jahren wiederauferstanden war, konnte am Ende niemand ihr wahres Alter berechnen.

Sobald der Hirtenjunge ihnen berichtet hatte, was auf dem Friedhof vor sich ging, liefen die Leute aus der Umgebung herbei. Die Enden ihrer Sarongs hochraffend, Kinder tragend, Besenstiele umklammernd oder noch schmutzig von der Arbeit im Reisfeld, drängten sie sich hinter Zierkirsch- und Rizinusstauden oder in der angrenzenden Bananenpflanzung.

Niemand wagte, sich dem alten Grab zu nähern. Die Leute lauschten nur dem Lärm aus dessen Innerem, so als stünden sie, wie sie es oft taten, um den Hausierer herum, der jeden Montag vor dem Markt seine Heilmittel anbot. Sie genossen das unheimliche Schauspiel, das sie in Angst versetzt hätte, wären sie ganz allein dort gewesen. Zudem erwarteten sie noch eine Art Wunder und nicht bloß laute Geräusche aus einem alten Grab, denn schließlich war die Frau unter diesem Stück Erde in den Kriegsjahren eine Prostituierte für die Japaner gewesen, und die Kyais sagten immer, dass die mit Sünde behafteten Menschen ihre grausame Strafe im Grab erhalten würden. Der Lärm rührte also bestimmt von der Peitsche eines strafenden Engels her. Doch den Leuten wurde es langsam langweilig, denn ein bisschen aufregender durfte es schon werden.

Das Wunder kam dann, und zwar überaus fantastisch. Das Grab bebte, bekam Risse, und die Erde flog in die Luft, als wäre darunter ein Sprengsatz detoniert. Es folgten ein leichtes Beben, dann ein Windstoß, der Gestrüpp und Grabsteine umherwirbelte, und unter dem Regen aus Erde, der über der Szene niederging, stand die Gestalt einer alten Frau mit regungsloser, mürrischer Miene und noch in ein Leichentuch gehüllt, als wäre sie erst in der Nacht davor begraben worden. Die Leute gerieten außer sich und liefen, panischer noch als die Schafe, auf und davon. Ihre Schreie hallten von den Berghängen in der Ferne wider. Eine der Frauen warf ihr Baby in die Büsche, und ihr Mann umklammerte einen Bananenstrunk. Zwei Männer stürzten in einen Graben, einige fielen bewusstlos an den Straßenrand, und wieder andere liefen ohne anzuhalten mindestens fünfzehn Kilometer weit.

Dewi Ayu, die all das beobachtete, hustete nur und staunte, sich mitten auf einem Friedhof wiederzufinden. Sie hatte inzwischen die zwei obersten Knoten ihres Leichentuchs gelöst und machte sich an die zwei untersten, um gehen zu können. Ihr Haar war auf wundersame Weise gewachsen, und als sie es aus dem weißen Baumwolltuch schüttelte, fiel es, in der Nachmittagsbrise wehend und glänzend wie
schwarze Algen im Fluss, bis auf die Erde. Ihre Haut war faltig, doch ihr Gesicht schimmerte hell. Aus lebhaften Augen beobachtete sie die Leute, die sich hinter die Büsche gedrängt hatten, bevor ein Teil von ihnen die Flucht ergriff und der andere Teil die Besinnung verlor. An niemanden im Besonderen gerichtet, schimpfte sie laut und klagte, wie schlecht die Menschen doch waren, sie bei lebendigem Leib begraben
zu haben.

Ihr erster Gedanke war ihr Baby, das natürlich längst kein Baby mehr war. Als sie vor einundzwanzig Jahren starb, hatte sie nur zwölf Tage zuvor ein hässliches Mädchen zur Welt gebracht. Es war so hässlich, dass die Hebamme unsicher war, ob es sich tatsächlich um ein Baby handelte oder um einen Klumpen Kot, zumal zwischen der Öffnung für Babys und der Öffnung für Kot nur zwei Zentimeter Abstand lagen. Aber das Neugeborene krümmte sich und lächelte, und schließlich war die Hebamme doch davon überzeugt, dass es wahrhaftig ein Baby war. Der Mutter, die kraftlos und ohne erkennbaren Wunsch, ihr Neugeborenes zu sehen, auf dem Bett lag, sagte sie, dass
das Baby gesund war und einen freundlichen Eindruck machte.

»Es ist ein Mädchen, stimmts?«, fragte Dewi Ayu.

»Ja«, antwortete die Hebamme, »genau wie die drei Babys davor.«

»Vier Töchter, und alle sind sie schön«, sagte Dewi Ayu barsch. »Ich sollte ein eigenes Bordell aufmachen. Sag mir, wie hübsch ist die Kleine?«

aus: Eka Kurniawan: Schönheit ist eine Wunde. Aus dem Indonesischen von Sabine Müller. Unionsverlag, 2017 (Hardcover). ISBN-13: 978-3-293-00521-1ISBN-10: 3-293-00521-7

© Unionsverlag

Okky Madasari: Auszug aus dem Roman „Gebunden. Stimmen der Trommel“

18. September 2003

Mein ganzes Leben ist eine Falle.

Mein Körper war meine erste Falle. Die nächste meine Eltern, dann alle anderen Menschen, die ich kannte. Weiterhin alle Dinge, mit denen ich in Berührung kam, alles was ich je getan habe. All dies sind Fallen, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen. All dies sperrt mich ein, fesselt mich –, hohe Mauern, in denen ich in meinen 30 Lebensjahren gefangen bin.

Jetzt bin ich hier. In einer Falle, die mit bloßem Auge erkennbar ist.

Von tatsächlichen Mauern umschlossen. Eingesperrt, hinter Gittern, im Gefängnis. Ich weiß nicht wie lange.

Vielleicht werde ich genug Willenskraft haben, meinen Weg weiterzugehen, warten bis der Tag der Freilassung kommt – obwohl es keine wirkliche Befreiung sein würde. Denn wenn dieser Tag käme, würde ich nur wieder in eine andere Falle geraten.

Oder aber ich beende alles, renne weg, so weit es geht. Renne davon, um meinen Körper zu verlassen, die mich begrenzenden Mauern zurückzulassen, mein Leben hinter mir zu lassen.

Ich weiß es noch nicht. Wenn ich diese Geschichte morgen fortsetze, bedeutet es, dass ich noch da bin. Dass ich gewählt habe, in meinem eigenen Leben weiterhin in der Falle zu sitzen, gewählt habe, eingesperrt und gefangen zu sein. Gewählt habe, nicht in Freiheit zu sein, weil ich mich offen gestanden zu sehr vor dieser Freiheit fürchte, da ich schon gewohnt bin, gefangen zu sein, es mir zur Gewohnheit geworden ist, über meine Fesseln zu klagen.

Aber wenn diese Geschichte morgen nicht weitergeht, könnt ihr mit mir zusammen glücklich sein. Ich werde dann frei sein. Ich werde keine Angst mehr haben. Ich werde mich dann nicht mehr fügen; nicht mehr kapitulieren, weil ich Angst habe. Ist das nicht die wahre Freiheit?

Sasana

Die Falle des Körpers

Die erste Stimme, die ich je kennengelernt habe, war die Stimme des Klaviers. Nicht die Stimme meiner Mutter, auch nicht die meines Vaters. Das erste Mal, als ich diese Stimme hörte, befand ich mich noch in der Gebärmutter meiner Mutter. Ich hörte sie nicht nur, ich kannte die Töne und konnte sie unterscheiden. Ich konnte kräftige, stampfende Töne fühlen, die mich immer aufweckten und in Bewegung versetzten. Bei sanften Tönen hingegen wiegte ich mich hin und her, schlief fest ein, konnte ruhig schlafen.

Keine andere Stimme hörte ich so. Ich hatte meine Mutter nie flüstern, meinen Vater nie schreien hören. Die Stimmen meiner Eltern lernte ich erst richtig kennen, als ich zur Welt kam. Doch zu dieser Zeit hörte ich dann zu viele Stimmen. Laut, sich überlagernd, flüchtig. Bis ich eigentlich nichts mehr wirklich hören konnte. Nicht die Stimme meiner Mutter, nicht die Stimme meines Vaters, auch nicht den Klang des Klaviers.

Zu dieser Zeit bereute ich schon, geboren worden zu sein. Die Welt war nicht für mich. Die Welt brauchte mich nicht. Nichts bereitete mir Freude. Ich schien am falschen Ort zu sein. Immer machte ich alles falsch.

So wie der Klang des Klaviers das erste war, was ich kennenlernte, so war das Klavier auch die erste Sache, die meine Eltern mir zeigten, nachdem ich geboren war. Es machte ihnen eine große Freude, mich vor das Klavier zu setzen und meine Hände zu führen, um die einzelnen Tasten herunterzudrücken. Ich mochte das nicht, ganz im Gegensatz zu meinen Eltern. Sie lachten immer und sahen glücklich aus, wenn ich eine Taste anschlug und zum Klingen brachte. Ich tat dies jeden Tag, wenn nicht sogar den ganzen Tag lang. Es gibt nichts anderes aus meiner frühen Kindheit, an das ich mich erinnere, außer dem Klavier.

Als ich schon kein Baby mehr war, meine Kindheit begann, ließen meine Eltern einen Klavierlehrer kommen, um mich zu unterrichten. Dieser Lehrer kam zweimal in der Woche nachmittags. An den Tagen, an denen dieser Klavierlehrer kam, wurde ich immer nachmittags früher als sonst gebadet. Meine Kinderfrau brachte mich dann ins Wohnzimmer, wo das Klavier meiner Familie stand. Jeweils eine Stunde lang unterrichtete mich dieser Lehrer. Ich hatte keinen Spaß daran. Der Klang des Klaviers war in meinen Ohren nicht mehr schön. Er war zu einem störenden Geräusch geworden, das mir das Gefühl gab, getrieben zu werden, oder in einem Raum gefangen zu sein. Was konnte ich tun? Es gab nichts, was ich hätte tun können. Ich war ein kleiner Junge, hatte keine Macht, konnte nur tun, was meine Eltern von mir verlangten. So spielte ich weiter Klavier.

Sieben Lehrer haben mich unterrichtet. Jeder Lehrer hörte aus einem anderen Grund auf, mir Unterricht zu geben. Einer wollte heiraten, eine Lehrerin wurde schwanger und bekam ein Kind, ein weiterer Lehrer zog in eine andere Stadt, der nächste fand eine andere Anstellung und einem wurde es sogar zu langweilig. Langeweile. Es imponierte mir, dass jemand aufhörte etwas zu tun, weil er es langweilig fand. Leider war mir das nicht vergönnt. Mir war langweilig, aber ich hörte nicht auf, Klavier zu spielen. Ich hatte keinen Spaß daran, hatte aber keine andere Wahl.

Als ich in die Grundschule kam, beherrschte ich bereits die Werke der klassischen Komponisten: Beethoven, Chopin, Mozart, Bach, Brahms … Welchen großen Komponisten ihr mir auch genannt hättet, ich hätte ihn spielen können. Ich konnte all diese Stücke spielen. Schön sogar. Wenn ich spielte, benutzte ich allerdings nur meinen Verstand – nicht mein Gefühl. Klavier spielen hieß, ein Gerät bedienen, dachte ich zu jener Zeit. Wenn es nur darum ging, den Anweisungen eines Lehrers zu folgen, gelang mir dies mit Leichtigkeit. Obwohl es mir eigentlich keinen Spaß machte und ich mich dabei quälte, als sei in mir drin etwas falsch und mit allen Dingen um mich herum auch. Wie gesagt, ich fühlte mich immer fehl am Platz.

Auch Beifall und lobende Worte konnten mir nicht das Gefühl geben, am rechten Platz zu sein. In ziemlich jungen Jahren schon, ich war gerade in die vierte Klasse gekommen, hatte ich also bereits dutzende Male vor vielen Leuten Klavier gespielt. Von der Schule bis zum Einkaufszentrum. Manchmal nur zur Übung, manchmal im Rahmen eines Wettbewerbs. Meine Pokale standen alle in einer Reihe aufgereiht. Meine Fotos waren gerahmt und aufgehängt. In der Schule zählte ich immer zu den zehn Kindern mit den besten Noten. Ich war der Stolz meiner Eltern und ein Vorbild für Andere.

Als ich eben in dieser vierten Klasse war, wurde mein Geschwisterchen geboren. Ein hübsches Mädchen mit vollen, zarten Wangen. Ihr Körper war winzig, ihre Augen groß. Ich bewunderte sie. Ich liebte sie mehr als alles andere. Ich war sehr gern in ihrer Nähe. Es machte mir großen Spaß, sie anzuschauen, ihr Verhalten zu beobachten, ihr Lächeln zu sehen. Es fiel mir jedes Mal auf, wenn man ihr ein neues Kleidungsstück anzog, rosa Kleider, süße Schühchen. Jetzt gab es etwas anderes, abgesehen vom Klavier und dessen Klang, an das ich mich erinnerte: Melati. Ein wunderschöner Name, nicht wahr?

Melati. Wie gern ich diesen Namen wieder und wieder aussprach. Er war so anders als mein eigener Name: Sasana. Überhaupt nicht schön. Zu grimmig, zu hart. Mein Name erinnerte mich immer an Kampf und Blut. Wie ein Boxring. Aber meine Mutter bestritt immer, dass dies die Bedeutung meines Namens sei. Für sie bedeutete Sasana Männlichkeit, Mut, Stärke.

Melati wurde so erzogen wie ich. Doch ihr Leben schien ihr mehr Spaß zu machen. Immer lächelte und lachte sie. Von Tag zu Tag sah man mehr Schönheit in ihrem Gesicht. Wie ich wurde auch sie zuerst mit dem Klavier vertraut gemacht.

Dem Klavier kam in unserem Elternhaus in der Tat eine besondere Rolle zu. Für meine Eltern war das Klavierspiel eine Tradition, der die höchste Achtung gebührte. Ich selbst frage mich, woher ihre Ehrerbietung kam. Meine Eltern sind keine Musiker. Sie können zwar Klavier spielen, sind bei den Anfängen geblieben, weit entfernt von dem, was ich bereits in der vierten Klasse konnte. Auch ihre Berufe haben nichts mit Musik zu tun. Mein Vater ist Jurist und meine Mutter Chirurgin. Sie haben sich während des Studiums kennengelernt. Ihre gemeinsame Vorliebe für klassische Musik, die Freude an der Diskussion ernsthafter Themen von Politik bis Philosophie vereinte sie. Nachdem sie geheiratet und ein Haus gekauft hatten, war das Klavier, das wir bis heute besitzen, ihre erste Anschaffung. Etwas Besonderes für ein junges Paar, das gerade von niemanden mehr abhängig war. Sie bezahlten das Klavier in zwanzig Raten ab. Sie waren überzeugt, dass es ihnen sehr nützlich sein würde. Nicht nur für ihrer beider Glück, sondern auch für die Zukunft ihrer Kinder. Sie waren überzeugt, dass die auf diesem Klavier gespielte Musik ihren Kindern Intelligenz geben würde. Diese Überzeugung hatten sie aus Büchern gewonnen, die sie gelesen hatten. Melati und ich waren die Verwirklichung dieser Überzeugung. Und ich hatte den Beweis schon erbracht. Ein guter Junge, folgsam, liebevoll und klug. Zudem spielte ich sehr gut Klavier, wovon beide besessen waren. Sie liebten mich und waren stolz auf mich. Der erstgeborene, der einzige Junge. Bis ich mich zu verändern begann.

Ich weiß nicht mehr genau, wie es anfing. Es waren Schulferien. Ich hatte gerade sechs Jahre Grundschule hinter mir und war bereit für die Mittelschule. An jenem Abend war ich in einem Dorf hinter unserem Wohnkomplex. Ich stand zwischen Dutzenden Männern und Frauen und sah mir einen Auftritt an. Eine Frau in einem schillernden Kleid stand auf der Bühne. Sie hatte soeben ein Lied zu Ende gesungen. Sie sah die Zuschauer eindringlich und kokett an, was die Zuschauer sogleich mit Jubel und Beifall bedachten. Einige Leute riefen: „Zugabe! … Zugabe!“. Die Rufe wurden lauter. Das Publikum verlor fast die Geduld. Die Sängerin lächelte glücklich, spürte wie begehrt sie war. Die Trommel wurde geschlagen, die Gitarre gezupft, die Musik setzte ein. Musik, die ich nie zuvor gehört hatte. Ganz anders als die Kompositionen, die ich spielte, anders auch als die Stücke, die ich sonst hörte. Dann sang die Sängerin ein Lied, das mir völlig unbekannt, aber nicht fremd war. Es ging mir sofort ins Ohr, sein Text prägte sich mir mühelos ein.

So trällerte ich inmitten der singenden Menge der Stimme der Sängerin folgend dieses Lied mit:

Einmal habe ich im Riapark Musik erlebt
Der malaiische Rhythmus, Duhai, sehr angenehm
Der malaiische Rhythmus, Duhai, sehr angenehm

Die Flöte war aus Bambus, die Trommel aus Rindsleder
Dangdut, Stimme der Trommel, animiert mich zum Mitsingen
Dangdut, Stimme der Trommel, animiert mich zum Mitsingen

Terajana … terajana
Dies ist ein Lied, ein Lied aus Indien
Ei, so süß seine Melodie, ei, so süß seine Melodie
Süß die Stimme des Sängers
Passend zu seinem schönen Outfit.

In meiner Begeisterung bin ich schier bewusstlos
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt

Die Frau sang und bewegte sich dazu im Takt. Solche Körperbewegungen hatte ich noch nie gesehen. Die Stimme der Gitarre und die Trommel wurden eins – schön und voller Leidenschaft. Auch die Leute um mich herum bewegten sich nun im Takt zur Musik. Die Köpfe neigten sich nach vorn, zur Seite, guckten herausfordernd, während der Mund weiterhin mitsang.

Mein Körper wiegte sich, zunächst sanft. Ich war mir nicht bewusst, dass ich tanzte. Am Anfang war es nur eine leichte Bewegung, dann bewegte sich mein Arm, mein Körper neigte sich nach links und nach rechts. Ich ahmte die Tanzbewegungen meiner Nachbarn nach und rief auch mit ihnen: „Uoooo!”, „Ahoooo!“, oder „Ah… ah… ah…!” und tanzte, war wie in Trance. Trieb dahin. Genau wie es in diesem Lied beschrieben wurde:

In meiner Begeisterung bin ich schier bewusstlos
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt

Ich schloss die Augen ein ums andere Mal und genoss diese Momente sehr. Plötzlich zog mich jemand am Arm, sehr grob. Ich erschrak und erkannte meine Mutter. Sie hatte mich am Arm gepackt. Wortlos zerrte sie mich hinter sich her durch die Zuschauermenge und stieß mich ins Auto. Sie war mit dem Auto gekommen, obwohl sie den kurzen Weg hierher auch hätte zu Fuß gehen können. Auch ich war ja zu Fuß hergekommen, allein, zum ersten Mal. Viele Dinge erlebte ich an jenem Abend zum ersten Mal. Jener Abend war der schönste meiner zwölf Lebensjahre gewesen. Ich würde ihn nie vergessen und nie damit abschließen. Obwohl ich seine Folgen ertragen musste.

Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus: Okky Madasari: Gebunden. Stimmen der Trommel. sujet Verlag, 2. Auflage 2017, (ISBN: 978–3-944201–83-2)

© sujet Verlag

Iksaka Banu: Lebewohl, Hindia!

Der alte Chevrolet, in dessen Fond ich saß, verlangsamte seine Fahrt, bis er schließlich am Ende der Noordwijk-Straße vor einer Barrikade aus Bambusstangen zum Stehen kam. Nur einen Augenblick später tauchte, einem Albtraum gleich, von der linken Seite eines Gebäudes her eine Gruppe langhaariger Männer auf, die ihre Waffen auf uns gerichtet hielten. Sie trugen abgetragene, offenbar aus unterschiedlichen Armeebeständen stammende Uniformen und rotweiße Tücher um ihre Köpfe.

„Aufständische“, raunte Dullah, mein Fahrer, mir zu.

„Sie müssen unbedingt den Presseausweis sehen!“, flüsterte ich zurück.

Dullah deutete mit der Hand auf das an der Frontscheibe angebrachte Stück Papier. Einer der Männer, die allem Anschein nach die Straßenblockade errichtet hatten, schaute durchs Seitenfenster,

„Wohin gehts?“, fragte er mit bedrohlich funkelnden Augen. Er trug einen schwarzen Peci. Sein dichter Schnurrbart teilte sein Gesicht in eine obere und eine untere Hälfte.

„Freiheit, Herr! Wir sind auf dem Weg nach Gunung Sahari. Er ist Journalist. Er ist in Ordnung“, erwiderte Dullah mit einer Miene, mit der er größtmögliche Ruhe auszustrahlen versuchte, und deutete mit dem Daumen nach hinten auf mich.

„Steig aus, bevor du mit mir redest, Idiot!“, fuhr ihn der Schnurrbart an und schlug mit der flachen Hand auf die Motorhaube, dann setzte er hinzu: „Sag dem Weißen, er soll auch aussteigen!“

Eilig kamen Dullah und ich seinem Befehl nach. Mit Hilfe einiger seiner Kameraden durchsuchte uns der Schnurrbart von oben bis unten. Ein Päckchen Davros, aus dem ich erst eine einzige Zigarette geraucht hatte, wechselte sogleich hinüber in seine Hemdtasche. Ebenso wie ein Bündel Geldscheine in der japanischen Militärwährung aus meiner Brieftasche. Einer der Aufständischen stieg ins Auto, durchsuchte erst das Handschuhfach, setzte sich dann auf den Fahrersitz und drehte das Lenkrad hin und her wie ein kleines Kind.

„Martinus Witkerk. De Telegraaf“, las der Schnurrbart aus meinem Auftragsschreiben vor, dann wandte er sich zu mir: „Niederländer?“

„Er spricht kein Malaiisch, er stammt von dort“, schaltete sich Dullah ein. Das war natürlich eine Lüge.

„Ihn hab ich gefragt, nicht dich. Verflucht nochmal!“.

Der Anführer schlug Dullah ins Gesicht. „Deine Landsleute werden von Kugeln durchsiebt und sterben, und du machst bei den Kolonialisten mit. Los, verschwindet von hier! Haut bloß ab!“ Er gab mir meine Brieftasche zurück und steckte sich eine seiner erbeuteten Zigaretten an.

„Danke, Dullah“, sagte ich nach einer Weile, nachdem unser Wagen sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. „Ist alles in Ordnung?“

„Nichts passiert, Herr. Ein paar von diesen Männern sind eben so. Sie geben vor, Freiheitskämpfer zu sein, aber dann dringen sie einfach in die Häuser einfacher Leute ein und verlangen nach Essen und Geld. Und Frauen belästigen sie auch oft“, erklärte Dullah. „Zum Glück saß ich am Steuer.

Ich glaube, wenn Herr Schurck gefahren wäre, hätten Sie das beide nicht überlebt. Männer wie die von vorhin zögern nicht, Europäer zu töten, die leicht aus der Haut fahren wie Herr Schurck. Egal ob Journalist oder nicht.“

„Jan Schurck hat in der Tat ein Händchen dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen“, sagte ich nunmehr schmunzelnd.

„Das ist der Grund, warum ihm das Life-Magazin ein so hohes Gehalt zahlt.“

„Sind Sie sich bei der Adresse der jungen Dame sicher?“

„Ja, gegenüber dem Topografisch Bureau muss es sein. Sie wollte einfach nicht von dort weg. So ein Dickkopf.“

Der Dickkopf. Maria Geertruida Welwillend.

Geertje! Ja, so nannte man sie.

Ich war dieser Frau zum ersten Mal im Internierungslager Struiswijk begegnet, das war kurz nachdem bekannt gegeben wurde, dass die Japaner vor den Alliierten kapituliert hatten.

Vor unserer Begegnung hatte ich im Hotel Des Indes, das inzwischen wieder von Niederländern geführt wurde, mit ein paar der anderen Journalisten über die Niederlage Japans und deren Folgen für die Bevölkerung Niederländisch-Indiens diskutiert.

„Die Unabhängigkeitserklärung hat im Zusammenspiel mit der Reaktionslosigkeit der Gemeindeoberhäupter dazu geführt, dass die einheimische Jugend nicht mehr klaren Kopfes unterscheiden kann, was es heißt, „für die Freiheit zu kämpfen“ oder „kriminell zu sein“. Der ewig schwelende Hass gegenüber den Weißen und allen mutmaßlichen Kollaborateuren scheint sich plötzlich Bahn zu brechen in den verlassenen Straßen jener Wohnviertel, in denen vornehmlich Europäer leben und die unmittelbar an jene der Einheimischen grenzen“, sagte Jan Schurck und warf einen Stapel Fotos auf den Tisch.

„God Almachtig. Die Leichen sind ja kaum mehr als Hackfleisch“, stieß Hermanus Schrijven vom Utrechts Niewsblad aus und bekreuzigte sich, nachdem er einen Blick auf die Fotos geworfen hatte. „Es heißt, die Schlächter seien Rädelsführer oder Räuber, die man als Soldaten rekrutiert hat. Einen Teil ihrer Beute verteilen sie unter den Einwohnern. Aber das Meiste behalten sie selbst.“

„Patriotische Räuber“, erwiderte Jan schulterzuckend.

„Die gab es auch zu Zeiten der Französischen Revolution oder der bolschewistischen Revolutionen oder heutzutage auch unter den jugoslawischen Partisanen.“

„Bastarde der Revolution“, warf ich ein.

„Ich hasse den Krieg“, sagte Hermanus und schnippte seine Zigarettenkippe fort.

„Die Europäer hier sind sich der Gefahren nicht bewusst“, sagte ich. „Nach ihrer langen Leidenszeit in den Internierungslagern wollen sie nichts anderes mehr, als so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren. Sie ahnen nicht, dass sich ihre Diener und Hausjungen inzwischen in Freiheitskämpfer verwandelt haben.“

„Ich befürchte“, ergriff Eddy Taylor vom Manchester Guardian das Wort, „die meisten von ihnen haben noch gar nichts von dem Appell Lord Mountbattens gehört, so lange in den Lagern zu bleiben, bis die Alliierten eintreffen.“

„Ja, und die japanischen Kommandanten, die nach ihrer Niederlage jeglichen Lebensmut verloren haben, lassen die Gefangenen einfach laufen. Das ist das Beängstigende daran“, sagte Jan und zündete sich die x-te Zigarette an.

„Es könnte schlimmer sein. Am 15. September landeten die britischen Truppen in der Bucht von Batavia“, ich deutete auf die entsprechende Stelle auf der Landkarte, die auf dem Tisch vor uns ausgebreitet lag. „Ein niederländischer Kreuzer, der bei der Landung ebenfalls dabei war, so heißt es, habe hiesige Militärkreise in mächtige Aufruhr versetzt. In deren Augen scheint dies den Verdacht zu erhärten, die Niederländer wollten nach Niederländisch-Indien zurückkehren.“

„Well“, warf Eddy Taylor ein und sah abwechselnd zu Jan und zu mir. Mal ganz unter uns, glaubt ihr daran, die Niederländer haben wirklich ein Interesse daran zurückzukommen?“

Unsere Diskussion wurde jäh unterbrochen, als Andrew Waller, Journalist des Sydney Morning Herald, der mit beachtlicher Ausdauer die Berichterstattung über die aktuellen Entwicklungen am Funkgerät verfolgt hatte, plötzlich ausrief: „Das ist ein Ding! Hört euch das an! Das ist höchst interessant! Ehemalige Soldaten der KNIL und britische Soldaten haben heute morgen damit begonnen, die Insassen der Internierungslager Cideng und Struiswijk zu verlegen.“

Ohne auch nur einen Augenblick Zeit zu verlieren, brachen wir alle miteinander auf. Jan und ich entschieden uns, das Internierungslager Struiswijk aufzusuchen.

Dort angekommen trafen wir den japanischen Kommandanten Major Adachi, der dem gesamten Unterfangen der Massenverlegung erleichtert entgegen sah.

„Unsere Patrouillen stoßen ständig auf die Leichen von Europäern, die aus dem Lager flohen. Am Straßenrand, verstümmelt und in Säcke gesteckt“, sagte er.

Ich nickte und machte mir Notizen. Tatsächlich aber haftete mein Blick an Geertje, die – mit einem Koffer in der Hand und seelenruhig – an uns vorüber spazierte. Sie ging allerdings nicht auf einen der bereitstehenden Lastwagen zu, sondern schlug die Richtung Drukkerwijweg ein, offenbar dazu entschlossen, dort eine Fahrradrikscha zu nehmen.

„Hei Martin!“ rief Jan Schurck mir zu. „Das Mädchen hat schon die ganze Zeit ein Auge auf dich geworfen. Schlag dein Glück nicht aus. Los, lauf ihr nach!“

Ich ging ihr tatsächlich nach, erlebte aber eine große Überraschung.

„Ich komme nicht mit“, sagte Geertje und blickte mich scharf an. „Ein paar Lastwagen fahren nach Bandung. Zu einem Aufnahmelager an der Ursulinen-Kapelle. Andere Lastwagen fahren nach Tanjung Priok. Aber ich muss nach Hause nach Gunung Sahari. Ich habe dort alle Hände voll zu tun“, erklärte sie.

„Willst du damit sagen, dass du in Gunung Sahari gelebt hast, bevor die Japaner kamen, und jetzt wieder dorthin zurückkehren willst?“, fragte ich.

„Was ist falsch daran?“, fragte Geertje zuruck.

„So einiges. Es ist der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort. Immer mehr Weiße, Chinesen und mutmaßliche Kollaborateure der Niederländer werden umgebracht. Wie kannst du dorthin zurückwollen?“

„Weil dort mein Zuhause ist. Und nun bitte ich um Entschuldigung“,

Geertje kehrte mir den Rücken zu und nahm ihren Koffer, den sie kurz abgestellt hatte, wieder auf.

Ich war sprachlos. In einiger Entfernung sah ich diesen Mistkerl von Jan, der mit dem Daumen nach unten zeigte. „So warte doch!“ Ich lief Geertje hinterher. „Ich begleite dich.“

Diesmal wies sie mich nicht ab. Und Jan erklärte sich glücklicherweise bereit, mir sein Motorrad auszuleihen.

„Nimm dich vor diesem jungen Herrn in acht, Nyonya“, sagte er augenzwinkernd zu Geertje. „In den Niederlanden warten zahllose Frauen schmachtend auf seine Rückkehr.“

„Ach, ist das so?“, gab sie zurück. „Aber nenn mich doch Nona oder einfach Geertje.“

„Wenn das so ist, nenn du mich doch einfach Jan.“

„Und das hier ist Martin“, sagte ich und klopfte mir gegen die Brust. „Willst du nicht endlich diese Holzschuhe aus dem Lager loswerden?“, fragte ich mit einem Blick auf Geertjes Füße. „Haben die Soldaten im Lager etwa keine Schuhe an Frauen und Kinder ausgegeben? Sie haben doch auch Lippenstifte und Puder verteilt. Ihr werdet bald alle wieder hübsch aussehen können.“

„Ich bin noch nicht wieder an Schuhe gewohnt, daher habe ich sie im Koffer verstaut. Im Lager konnte ich mit den Holzschuhen richtig gut laufen“, erwiderte Geertje lachend, während sie sich auf den Rücksitz des Motorrads setzte.

Mijn God. Ihr frisches Lachen und diese Grübchen in ihren Wangen. Und wie diese sich auf ausnehmende Weise mit ihren im leichten Winkel zueinander stehenden Augenbrauen verbanden. Ihr Gesicht gab mir Rätsel auf. Ob sie wohl noch Familie hatte? Einen Ehemann? Nein, letzteres konnte nicht sein, vorhin wollte sie Nona, „Fräulein“, genannt werden.

„Das Zehnte Bataillon patrouilliert zwar häufig in Gunung Sahari“, räumte ich ein. „Sie bewachen die Viertel der Europäer. Aber natürlich weiß niemand, wann mit einem Angriff zu rechnen ist. Denk nochmal über meinen Vorschlag nach.“ Ich konnte Geertjes Gesicht im Rückspiegel sehen. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch der Motor von Jans Motorrad dröhnte zu laut. Schließlich schwiegen wir die restliche Fahrt über.

An der Kreuzung Kwitang bog ich rechts ab, und so entfernten wir uns von der Kolonne der mit Frauen und Kindern beladenen Lastwagen. Ach, die Kinder. Ausgelassen klatschten sie in ihre Hände, sangen fröhliche Lieder. Sie ahnten nichts von dem so gut wie Unvermeidlichen, nämlich dass Hindia, das Land, in dem sie geboren worden waren, bald nur noch der Erinnerung angehören würde.

„Vor dem Fischteich da vorn ist es“, rief Geertje und schwenkte ihren Arm.

Ich fuhr an die Seite. Das recht große Haus war in erbärmlichem Zustand. Die Außenwände waren verschmutzt. Hier und dort waren Fensterscheiben zerborsten. Merkwürdig war jedoch, dass der Rasen im Hof erst vor Kurzem geschnitten worden zu sein schien.

„Warte!“, stieß ich aus und griff nach Geertjes Arm, als sie bereits im Begriff war, auf die Veranda zuzulaufen. Aus meiner Tasche auf dem Gepäckträger zog ich einen Dolch, den ich mir vorhin ebenfalls von Jan geborgt hatte. Ich stieß gegen die Vordertür. Sie war verschlossen.

„Willst du wirklich immer noch hinein?“, fragte ich Geertje.

„Ja“, war ihre Antwort. „Und steck deinen Dolch weg!

Lass mich anklopfen. Hoffentlich hat sich das Haus keine andere europäische Familie genommen.“

„Oder Aufständische“, gab ich zurück.

Geertje klopfte mehrere Male. Keine Antwort. Wir gingen um das Haus herum. Die Hintertüre stand einen Spalt weit offen. Wir wollten gerade eintreten, da hörten wir Schritte vom Garten her. Eine Einheimische von etwa fünfzig Jahren kam auf uns zu.

„Nona!“, rief sie aus, fiel auf die Knie und schlang ihre Arme um Geertjes Beine.

Geertje nahm sie bei den Schultern und hieß sie aufstehen.

„Die Japaner haben verloren. Ich komme wieder nach Hause, Iyah. Wo ist Ihr Mann? Haben Sie die ganze Zeit über hier gewohnt?“, fragte Geertje. „Das ist Herr Witkerk, ein Bekannter von mir. Martin, das ist Iyah, unsere Haushälterin.“

Iyah verneigte sich kurz vor mir und wandte sich dann wieder Geertje zu.

„Nachdem ich Sie das letzte Mal im Lager besuchte, haben die Japaner sich das Haus genommen. Offiziere wohnten hier. Ich habe für sie gekocht. Ich durfte nicht fortgehen. Deshalb habe ich Sie auch nicht mehr besuchen können.“

Iyah schluchzte abermals. „Wo ist Ihr Vater, Ihre Mutter, und der junge Herr Robert?“

„Mama ist im letzten Monat gestorben. Die Cholera.“.

Geertje schob die Tür weiter auf und trat ins Haus. Iyah und ich folgten ihr.

„Papa und Robert wurden nach Burma deportiert“, fuhr Geertje fort. „Ich habe schon den Lagerkommandanten darum gebeten, sich nach ihnen zu erkundigen.“

„Alles, was wertvoll war, hat man beschlagnahmt. Die Fotos an den Wanden wurden vernichtet und durch eine japanische Fahne ersetzt. Aber es ist noch nicht lange her, da sind sie plötzlich von hier fort. Ich weiß nicht wohin. Viel haben sie nicht mitgenommen“, erklärte Iyah. „Ich hole die Sachen zum Kochen aus dem Schuppen. Und ich hole meinen Mann hierher; denn als ich für die Japaner zu kochen anfing, bin ich in den Schuppen hinter dem Haus gezogen.

Auch als sie fort waren, habe ich mich nicht getraut, hier im Haus zu wohnen. Aber bei jeder Gelegenheit bin ich sofort hierher und habe, wo es nötig war, sauber gemacht.“

„Holen Sie Ihren Mann. Wir richten das Haus wieder her. Wenn die Banken wieder normal arbeiten, kann ich vielleicht etwas von meinem Sparbuch abheben.“ Geertje wartete, bis Iyah hinausgelaufen war, und setzte dann ihre Hausinspektion fort. Ein paar Tische und Stühle waren noch da, auch mehrere Schränke, diese waren allerdings leergeräumt. Im Wohnzimmer erwartete mich eine Überraschung: ein edles schwarzes Klavier. Erstaunlicherweise hatten es die Japaner weder beschlagnahmt noch zerstört. Vielleicht hatten sie es zu ihrer Unterhaltung genutzt.

Geertje blies über die dünne Staubschicht auf dem Deckel und öffnete ihn. Eine heitere Melodie erfüllte sogleich den Raum.

„Ist das ein Volkslied?“, fragte ich.

„‚Si Patoka’an‘“, sagte Geertje und nickte zustimmend, dann summte sie zu ihren Anschlägen der Tasten.

„Du bist wohl mit der ganzen Umgebung und den Leuten hier eng verbunden. Und sie scheinen dich ebenfalls zu mögen. Wahrscheinlich lieben sie dich von ganzem Herzen“, sagte ich. „Aber die Zeiten von Herr und Diener werden bald vorüber sein. Amerika zeigt immer deutlicher, wie sehr ihm der Kolonialismus missfällt. Die Welt hat begonnen, jeden noch so zarten Pulsschlag des Wandels, der hier zu verzeichnen ist, zu beobachten. Und unsere Jahrhunderte währende Präsenz als Herrscher über dieses Land oder vielmehr als nimmersatte Blutsauger macht unsere Verhandlungsposition nicht gerade besser. Ich denke, Niederländisch-Indien ist nicht mehr zurückzugewinnen, ganz gleich wie erbittert wir darum kämpfen, das Land den Händen der einheimischen Nationalisten zu entreißen.“

„Wenn das Feuer der Revolution einmal entfacht ist, kann es niemand mehr aufhalten“, Geertje hielt im Tastenschlag ihrer Finger inne. „Sie wollen einfach ihre Autonomie, wie mein Vater stets zu sagen pflegte. Mein Vater verehrte Henk Sneevliet. Er war bereit, seine Privilegien, die er hier genossen hatte, zu verlieren. Ich selbst bin Lehrerin an einer Schule für einheimische Kinder. Ich bin unter Einheimischen geboren und aufgewachsen. Als die Japaner an die Macht kamen, ist mir bewusst geworden, dass Niederländisch-Indien mit all seinem aristokratischen Gehabe an sein Ende gelangt ist. Ich muss den Mut aufbringen, dem Land Lebewohl zu sagen. Aber was auch immer das Schicksal letzten Endes für mich bereithalten mag, ich werde hier bleiben. Nicht als eine der „Herrschenden“, wie du es vorhin nanntest. Wer weiß, was ich sein werde. Die Japaner haben uns eine Lektion erteilt, wie bitter es ist, anderen zu dienen.

Nachdem wir früher all die Zeit im Wohlstand gelebt haben, wäre es da nicht beschämend, ausgerechnet dann die Flucht zu ergreifen, wenn die Menschen hier unseren Beistand benötigen?“

„Die Menschen…“, ich beendete den Satz nicht. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

„Es gibt diese Geschichte“, sagte ich endlich und schöpfte Atem. „Ein Jäger findet ein Tigerjunges, er zieht das Tier liebevoll auf. Es wird zahm. Es isst und schläft gemeinsam mit dem Jäger, bis es ausgewachsen ist. Es bekommt niemals Fleisch zu fressen. Eines Tages aber schneidet der Jäger sich am Futternapf des Tigers. Blut fließt von seiner Hand.“

„Der Tiger leckt von dem Blut, wird wild und fällt den Jäger an“, unterbrach mich Geertje. „Du versucht mir wohl damit zu sagen, dass mich eines Tages Einheimische hinterrücks erstechen werden. Ist es nicht so?“

„Wir befinden uns in Zeiten eines gewaltigen Umbruchs, er erfasst die ganze Welt“, erwiderte ich. „Ganze Wertegefüge verschieben sich. Nach Jahrhunderten wird uns jetzt bewusst, dass dieses Land nicht unser Vaterland ist. Zum dritten Mal bitte ich dich, geh von hier fort, solange du es noch kannst.“

„Soll ich etwa in die Niederlande?“ Geertje schloss den Klavierdeckel. „Ich weiß nicht einmal, wo dieses Land meiner Vorfahren überhaupt liegt.“

„In dem Ort, aus dem ich komme, in Zundert, gibt es ein paar Häuser zu erschwinglichen Mietpreisen. Dort könntest du wohnen, wenigstens solange du auf Neuigkeiten von deinem Vater wartest.“

„Danke“, sagte Geertje lächelnd. „Aber du weißt ja, wo ich leben will.“

So hatte Geertjes Antwort vor inzwischen mehreren Monaten gelautet. Ich sah sie danach noch zwei Male wieder. Das eine Mal setzten wir in ihrem Haus neue Fenster ein und das andere Mal begleitete ich sie zum Markt. Danach hatte ich mich in die Arbeit gestürzt. Auch Geertje schien mit nichts anderem beschäftigt zu sein als mit der Instandsetzung ihres Hauses. Da war kaum anzunehmen, dass sich zwischen uns auch nur ein Funke von Leidenschaft entfachen würde.

Dann kam die seit langem befürchtete Meldung über die bewaffneten Kämpfe in der vergangenen Nacht. Diese weiteten sich auf mehrere Stadtviertel Batavias, von Meester Cornelis bis nach Kramat, aus. Einheiten von jungen Aufständischen hatten in einer konzertierten Aktion eine flächendeckende Offensive in verschiedenen Vierteln unternommen.

In der Nähe von Senen-Gunung Sahari war es ihnen gelungen, einen Panzer der NICA fahruntüchtig zu machen. Ich machte mir große Sorgen um Geertje. Am besten würde es sein, sie aus ihrem Haus zu holen. Sie konnte vorerst bei uns wohnen. Ich hoffte nur, diesmal würde sie nicht ablehnen. Schurck war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Stadt, daher konnte ich mir sein Motorrad nicht ausleihen.

Zum Glück war jemand vom Hotel bereit, mir, wenn auch völlig überteuert, ein Auto mit Fahrer zu vermieten.

„Ist es das Haus dort vorne?“, erklang Dullahs Stimme und holte mich zurück in das heiße Wageninnere des Chevrolets.

„Richtig. Warte hier!“, beunruhigt sprang ich aus dem Wagen.

Vor Geertjes Haus standen ein paar NICA-Soldaten in Bereitschaft. Einige andere marschierten im Hinterhof des Hauses auf und ab. Die Veranda war beschädigt. Die Vordertür lag auf dem Boden, von Kugeln durchsiebt. In Fußboden und Wänden klafften schwarz umränderte Löcher, – eine Granate musste hier detoniert sein.

„Entschuldigung, ich bin Journalist!“, rief ich und hielt, während ich mir einen Weg durch die Menge hindurch bahnte, meinen Presseausweis in die Höhe. Ich blickte mich aufmerksam um. Mit gemischten Gefühlen betrat ich jedes Zimmer, als erwartete ich, jeden Augenblick Geertjes Leiche in einer Blutlache liegend vorzufinden. Dieser schreckliche Anblick blieb mir erspart. Ein Soldat kam auf mich zu, er schien der Kommandant zu sein. Ich hielt ihm meinen Ausweis entgegen.

„Was ist hier passiert, Sergeant… Zwart?“, fragte ich ihn und las den Namen vom Aufnäher an seiner Uniform ab.

„Ist das bei einem der Angriffe in der letzten Nacht passiert? Wo sind die Bewohner dieses Hauses?“

„Wir waren das, wir haben das Haus gestürmt. Seine Bewohner sind geflohen. Sind Sie Journalist? So ein günstiger Zufall. Wir werden die Nachricht von dieser Sache verbreiten, als Warnung an alle.“ Sergeant Zwart forderte mich auf, ihm in die Küche zu folgen. „Hier haben sich die Aufständischen getroffen“, erklärte er. „Hier fand sich jede Menge Propagandamaterial, das sich gegen NICA richtet.“

„Entschuldigen Sie, soweit ich weiß, gehört das Haus einer Niederländerin, Nona Geertje.“

„Sie kennen sie? In diesem Fall werden wir einige Fragen an Sie haben. Es besteht der Verdacht, dass Nona Geertje die Seiten gewechselt hat. Ihre möglichen Aliasnamen „Zamrud Khatulistiwa“ (Smaragd des Aquators) oder „Ibu Pertiwi“ (Mutterland), die wir in letzter Zeit immer wieder im Funkverkehr des Untergrunds aufgegriffen haben, lassen sich vermutlich ihr zuordnen.“

Geertje? Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich wollte widersprechen. Sergeant Zwart aber war bereits damit beschäftigt, eine große, in der Erde neben dem Schuppen eingelassene Türe anzuheben und sie zu öffnen. Ein Bunker.

Bei meinen Besuchen bei Geertje hatte sich dieser Zugang meiner Aufmerksamkeit völlig entzogen. Ich folgte Sergeant Zwart die Stufen hinab.

An sich war ein solcher Bunker nichts Außergewöhnliches. Nicht selten besaßen wohlhabende Niederländer einen gesonderten Raum, in dem sie Schutz vor allem bei Luftangriffen suchten. Dieser Raum hier war etwa vier Quadrat-meter groß und feucht. Darin standen ein langer Tisch, ein paar Stuhle sowie ein schäbiger Schrank gefüllt mit Kochgeschirr und einigen Stapeln Papier. Und tatsächlich, das Papier enthielt Anti-NICA-Propaganda.

Sergeant Zwart schob eine Abdeckung aus Stoff von einem Objekt, das hinter dem Schrank stand. Ein Funksender! „Eine Hinterlassenschaft der Japaner“, erklärte er.

Ich war sprachlos. Ich konnte das alles nicht glauben. Doch was mir wirklich das Blut in den Adern gefrieren ließ, war der Anblick an der Wand zu meiner Linken. An dieser mit Schimmel überzogenen Wand war eine Kombination aus Waschbecken und Spiegel angebracht. Auf der Oberfläche des Spiegelglases war mit einem Lippenstift und offenbar in Eile eine Zeile geschrieben worden: „Lebewohl, Hindia! Willkommen Republik Indonesien!“

Ich stellte mir Geertje mit ihren Grübchen vor, wie sie inmitten eines Reisfeldes saß und gemeinsam mit den Menschen, die sie liebte, sang: „Dies ist mein Land. Dies ist mein Haus. Was immer das Schicksal für mich bereit hält, ich werde bleiben.“

Von Anfang an hatte Geertje gewusst, wo sie zu stehen hatte. Langsam löschte ich das Wort „Verräter“ aus meinen Gedanken, das sich darin vorhin kurz niedergelassen hatte.

Jakarta, 12. Oktober 2012

aus: Iksaka Banu: Alles für Hindia! Gossenberg, Ostasien-Verlag 2020.

© Ostasien-Verlag, Iksaka Banu, Sabine Müller

Rio Johan: Amananunnas Schrift

Monate waren vergangen, seitdem Gott die Sprachverwirrung geschickt hatte und Amananunna hatte seine Sprache noch nicht gefunden. Es war, als laste ein Fluch auf seiner Schicksalslinie. Woche um Woche wanderte er um den Fuß des großen Zikkurat-Turms von König Nimrod, dem Auslöser von Gottes Zorn. Er strengte seine Ohren an, bemühte sich redlich, die Laute aus den Mündern der ihn umgebenen Menschen wahrzunehmen. Nicht die Bedeutung eines einzigen Lautes erschloss sich ihm. Eine Sprache war völlig anders als die des nächsten Vorübergehenden. Oft nahm er nur Strukturen wahr, die er weder begreifen noch nachsprechen konnte. Alles klang nur wie unkoordinierter Lärm, der eher störend wirkte, verstörend, da es für Amananunna keinen Sinn ergab. Voller Ärger versetzte er dem Fuß des Zikkurat-Turms, Symbol für die Hybris König Nimrods, einen Tritt. Drei Wochen blieb er im Lande Babylon, doch nicht eine Sprache der Menschen hier klang seinem Ohr vertraut. Er wunderte sich jedoch, dass die Leute in seiner Umgebung ihre Sprachen weiterhin eifrig benutzten, obwohl niemand sicher sein konnte, ob der Nachbar die eigene Sprache verstand. Er fragte sich, wie es sein könne, dass er offensichtlich der einzige Mensch war, dessen Ohr und Mund sich nicht in Harmonie mit auch nur einem einzigen anderen Menschen dieser Gegend befand. Einmal wollte er sein Sprachvermögen testen, versuchte am Rande des Marktes die Worte eines eloquenten Marktleiters nachzusprechen. Das Ergebnis war ernüchternd. Der Marktleiter verstand nicht, was er sagte. Dessen Antwort wiederum ergab für Amannunna keinen Sinn. Schließlich beschloss Amananunna auf Wanderschaft zu gehen, in der Hoffnung eine Sprache zu finden, die mit seinem Mund und seinem Ohr im Einklang war. Er durchquerte Wüstengebiete und bezwang eine Reihe von Bergen. Das Land der Lullubi. Die Stadt Hamazi. Uri-ki. Susin. Schubur. Er erreichte das Land der Mar-tu. Dilmun. Er gelangte sogar zu den namenlosen Stämmen im Land Anshan. Hunger und Erschöpfung musste er durchstehen. Manchmal, wenn ihm das Schicksal wohlgesonnen war, bekam er ein Stück Wild oder süßes Gebäck von freundlichen Nomaden, auf die er traf – mit ihnen kommunizierte er unter Zuhilfenahme seiner Körpersprache, nicht etwa seines Mundes. Denn die Forderungen seines Magens duldeten keinen Aufschub mehr: Einmal hatte er in seiner Not schon Gras vom Wegesrand gegessen, ein Wüstenreptil, sogar Kadaver, die noch einen essbaren Eindruck machten. All dies nahm Amananunna auf sich in der Hoffnung, seine Sprache wiederzufinden. Doch nicht eine der Sprachen, auf die er traf, harmonisierte mit seinem Ohr. Sein Ohr fühlte sich verflucht, weil es nicht mehr die Macht besaß Worte wahrzunehmen. Er war doch nicht taub. Einige Leute hatten ihn auch schon für taub gehalten. Seine Ohren konnten zwar Laute wahrnehmen, aber keine Wörter. Andere bezeichneten ihn als einen Idioten. Ein weiteres Mal war er von einem Stamm, der am Fuße eines Berges wohnte, vertrieben worden, weil sie glaubten, er bringe Unglück. Trotz alledem setzte er seine Wanderschaft fort. Er ging immer weiter auf der Suche nach seiner Sprache. Das Land Schinar hatte er bereits hinter sich gelassen. Als er wenig später die Gelegenheit erhielt, auf einem Fischerboot mitgenommen zu werden, war seine Fähigkeit, sich mit Gebärden auszudrücken, durch die Erfahrung schon gut geschult – und die großen, zwischen den Booten ausgebreiteten Netze spendeten dem Wasser Schatten. Er erreichte die Städte Eridu. Uruk. Ur. Samarra. Den Fluss Tigris. Und schließlich die Länder am Mittelmeer. Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war. Er wusste nicht, bis wohin er inzwischen vorgedrungen war, fühlte sich ausgelaugt. Da setzte er sich auf einen Stein in einer Gegend, von der er keine Vorstellung hatte. Eine steile Schlucht tat sich vor ihm auf. Ärgerlicherweise öffnete sich die Schlucht zur falschen Seite, so dass sie seinem Körper keinen Schutz vor der stechenden Hitze des Tages gab. Der Schweiß brach aus ihm heraus, strömte von seiner Stirn herab; einige Tropfen, die auf seinen Lippen Halt machten, schluckte er absichtlich hinunter, andere ließ er auf die heiße trockene Erde tropfen. Irgendwie spürte er das Geräusch der den Boden berührenden Schweißtropfen. Es klang wie eine Art Gähnen in seinem Ohr. Plötzlich entwich seinem Gehörgang heiße Luft  – und flüsterte! Sprache! In der nächsten Sekunde gelangte er wieder zu Bewusstsein. Sein Körper lag ausgestreckt auf dem unfruchtbaren Land. Die stechenden Sonnenstrahlen trafen noch immer auf seine schon glühenden Wangen. Die Sandkörner drangen in die Poren seines Gesichtes ein. Zum ersten Mal fühlte er eine Art von Erleuchtung. Amananunna fasste einen Entschluss: er würde eine eigene Sprache schaffen.

Mit diesem neuen Ziel setze er seine Wanderschaft fort. Er erfand eigene Wörter, inspiriert von dem, was er sah und hörte. Nicht selten schuf er ganz plötzlich ein neues Wort. Ein andermal nahm er ein Wort, das er irgendwo aufgeschnappt, aber nicht verstanden hatte, experimentierte ein bisschen mit dem Klang und machte es in abgewandelter Form zu einem Wort seiner eigenen Sprache. Er wanderte von Stadt zu Stadt, von Volk zu Volk, von Land zu Land, nicht nur um seine Sprache weiterzuentwickeln, sondern auch um seinen mündlichen Wortschatz zu verbreiten. Denn was für einen Sinn hätte eine Sprache, wenn er der Einzige wäre, der sie spräche. Doch wie hätte Amananunna dies bewerkstelligen sollen? Er war doch nur ein armer, unglücklicher Wanderer inmitten eines Dschungels fremder Sprachen, die schon ihre Berechtigung erlangt hatten. Die Leute, denen er seine Sprache anzubieten versuchte, hielten ihn entweder für verrückt oder dumm. Niemand schenkte ihm Beachtung, nahm ihn ernst. Wie konnte er seine Sprache in diesem Wald von ihm unverständlichen Sprachen verbreiten? Im fehlte die göttliche Macht dazu. Amananunna versank in tiefes Nachdenken. Amananunna begann am Rande eines Flusses in der Nähe einer Stammessiedlung darüber zu meditieren. Er betrachtete die Strömung des Flusses und die Sonnenstrahlen, die in die Wellen des Flusses eintauchten. Die Reflexion seines Gesichtes wippte auf und ab. Nur sein Schatten blieb unverändert. Neben dem Schatten eines anderen Menschen. Ein anderer Mensch! Neben ihm stand eine Frau! Wirklich, noch nie hatte er einen solchen Liebreiz gesehen! Die attraktive Gestalt war in schneeweißen Stoff gehüllt; ihr welliges Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Sie lächelte für einen Moment und ihre Augen begegneten sich. Die Frau war zum Fluss gekommen, um ihren Durst zu löschen. Wahrscheinlich war sie auch auf Wanderschaft. Mit einem Zweig ritzte Amananunna ein neues Schriftzeichen in die feuchte Erde: ↭. So entdeckte er das Wort für „Liebe”. Sie reagierte mit einem Lächeln und strahlte schließlich selbstvergessen über das ganze Gesicht. Kurz gesagt, Amananunna wurde seine Gefährtin auf der Wanderschaft. Und dieser Frau, deren Namen er nicht kannte, hatte er – entsprechend der von ihm geschaffenen Schrift und Sprache – den Namen Manatumanna gegeben und sie erwiderte seine Liebe. Er lehrte sie seine Schrift und Sprache. Aus Liebe verzichtete sie ohne Bedauern auf ihre bisherige Schrift und Sprache. Amananunna war überzeugt davon, dass sie ein göttliches Wunder war, eine Brücke für das Fortbestehen seiner Sprache. Während einer Rast auf ihrer Wanderschaft liebten die beiden sich im segensreichen Schutz von Inanna – der Göttin der romantischen Liebe und der Fruchtbarkeit. Nach der ein oder anderen Ruhepause barg Manatumanna etwas in sich, was ihr Nachwuchs werden würde. Amananunnas Freude darüber war übergroß. Er hatte den Fortführer seiner Sprache schon vor Augen. Wegen dieser Aussichten ließen die beiden sich im Dorf eines Stammes nieder, dessen Namen sie nicht auszusprechen vermochten. Viele Wochen später war die Zeit der Geburt gekommen. Sie gaben ihrem Sohn den Namen Ilanumanna, entsprechend der Schrift und Sprache Amananunna. Einige Wochen später setzten sie ihre Wanderung mit dem neuen Familienmitglied fort. Von Stadt zu Stadt, von Volk zu Volk, von Land zu Land. Ab und zu boten sie den Leuten, denen sie begegneten, ihre Sprache an, aber ohne Erfolg. Sie wussten nicht, wie lange sie schon umherzogen, wie viele Ruhepausen sie schon eingelegt hatten, wie viele Nächte sie den segensreichen Schutz von Inanna schon genossen hatten. Die beiden kümmerte es nicht, wenn sie hungrig oder erschöpft waren. Unterdessen wuchs Ilanumanna heran, wurde größer, stattlicher und schöner. Mit seinem Talent zur Jagd und mit seinem Körperbau übertraf er Amanannunna bei weitem. Auf Wunsch seines Vaters brachten die Eltern dem Jungen die Schrift und die Sprache Amananunnas bei und keine andere.

Nach einer unbestimmten Zeit beschenkte die Göttin Inanna sie mit einem zweiten Segen. Amananunnas zweiter Sohn kam zur Welt und erhielt den Namen Ilalumanna. Amananunna hegte für seinen zweiten Sohn ebensolche Hoffnungen wie für den Erstgeborenen. Leider ging diese Hoffnung zu weit. Ilalumanna war ein schwacher und kränklicher Junge. Anstatt sich an der Jagd zu beteiligen, half er seiner Mutter bei leichten Arbeiten. Zwei Gründe, das Bemühen um Sicherheit und Wohlergehen und die Angst vor dem Einfluss anderer Sprachen, veranlassten Amananunna zu dem Entschluss, seine eigene Siedlung zu gründen. Als Ort wählte er die Ebene am Rande der Schlucht, wo er die geflüsterte Eingebung gespürt hatte, eine neue Sprache zu schaffen. Nach seiner Erinnerung gab es dort in der Nähe einen Fluss und eine Wiese, die ihnen als Lebensquelle dienen würde. Nun wohnten sie schon einige Jahre dort, jagten, bauten Gemüse an, züchteten Kühe und Schafe. Doch es gab noch einen Gedanken, der Amananunna Sorgen bereitete: Nachwuchs. Die Fortführung ihrer Familie war für den Fortbestand der Sprache unerlässlich. Doch Inanna bedachte sie mit keinem weiteren Kindersegen. Er hatte keine Tochter, die einer seiner Söhne theoretisch hätte heiraten können. Sein eigener Körper war schon in die Jahre gekommen. Er spürte, dass er bald etwas unternehmen musste. Da befahl er seinem ältesten Sohn, der von Tag zu Tag männlicher und attraktiver wurde, sich in der nächsten Stadt eine Frau zu suchen. Ilanumanna war einverstanden und beeilte sich, den Auftrag seines Vaters zu erfüllen. Pech für Ilalumanna, dass er jetzt zusätzlich die Pflichten seines älteren Bruders übernehmen musste. Wochen, Monate, ich weiß nicht wie viel Zeit schon vergangen war, doch Ilanumanna brachte keine Verlobte nach Hause. Da reiste Amananunna in die Stadt, die Ilanumannas Ziel gewesen war, und musste dort feststellen, dass sein Sohn Schrift und Sprache des Vaters schon nicht mehr verstand. Ilanumanna hatte aus Liebe zu seiner Frau Schrift und Sprache seines Vaters aufgegeben. Amananunna konnte seine Enkel zwar betrachten, aber sein Wissen nicht an sie weitergeben. Sein Ohr und seine Zunge hatten innerhalb seiner eigenen Nachfahren die Kraft verloren. Amananunna kehrte ohne jede Hoffnung nach Hause zurück. Wegen der übermäßigen Aufgaben in Haus und Hof wurde der jüngere Sohn von Tag zu Tag schwächer und kränker. Amananunna konnte in seinen Jüngsten keine Hoffnung mehr setzen. Doch er wollte keinesfalls hinnehmen, dass die von ihm geschaffene Sprache einfach so verloren ging. Amananunna unternahm eine letzte Anstrengung. Der alte Mann ritzte die Buchstaben seiner Sprache in die Wände der Schlucht, in die Felsen, in Höhlenwände. Wenigstens würde er so die Spuren seines Schriftwerkes der Nachwelt hinterlassen.

Surakarta, 19 November 2012

Übersetzt aus: Rio Johan: Aksara Amananunna. Paperback, 240 Seiten; April 2014, Kepustakaan Populer Gramedia

© Rio Johan, Gudrun Ingratubun

Triyanto Triwikromo: Das Wirrwarr der Verwandlung

Als Franz Kafka eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett in ein Rind verwandelt. Gewiss erschrak er, wälzte sich hin und her. Ihm wurde bewusst, dass er selbst – in der Gestalt eines Tierkörpers mit Buckel und Wamme – das Zimmer ausfüllte, was ihm kaum noch Raum für Bewegung ließ.

„Das ist bestimmt ein Traum. Es war doch Gregor Samsa gewesen, der sich in ein Ungeziefer, einen riesigen Mistkäfer verwandelt hatte. Nicht ich selbst. Und in ein Rind hätte ich mich bestimmt nicht verwandeln mögen“, murmelte Kafka, „Was wäre an einem Rind schon interessant?“

„Daran ist doch nichts Merkwürdiges“, sagte ein Tier mit aufgeblähtem Bauch, panzerartiger Rückenplatte und einer Vielzahl von Beinen, das ihm als der verwandelte Gregor Samsa vertraut war. Es krabbelte in Kafkas Ohr und flüsterte: „Ich habe mich in einen Mistkäfer verwandelt und niemand stört sich daran.“

„Doch merkwürdig: Wie würden die Leute wohl reagieren, wenn sie erführen, dass ein Mann jüdischer Herkunft, am 3.Juli 1883 in Prag geboren, von keinem Regime der Welt verfolgt, sich plötzlich in ein Buckelrind verwandelt hätte? Hat etwa die Bourgeoisie sich gegen mich verschworen und mein Denken derart beeinflusst, dass ich mich selbst als Rind sehe?“

„Oh“, sagte Gregor Samsa, seine Fühler flink hin und her bewegend, „denke nicht wie ein ängstlicher Dichter! Du hast Der Verschollene, Der Prozess, Das Schloss und Die Verwandlung geschrieben. Doch deine Werke bringen lediglich deine Angst zum Ausdruck. Angst, beiseite gedrängt zu werden. Angst, nicht genügend Raum zum Leben zu haben. Angst, zu sterben. Angst, als Dichter vergessen zu werden.“

Kafka fühlte sich verletzt, hörte Gregor Samsas Worten jedoch weiterhin zu.

„Denke wie ein Versicherungsangestellter! Nimm an, dass alle Menschen dumm sind, sich keine Gedanken machen, was Versicherungsagenten tun. Denn dann kannst du jeden überzeugen, obwohl du ein Rind geworden bist: Ich bin Kafka. Ein perfekter Schriftsteller. Bin nicht impotent und gebe immer das Beste für meine Leser.“

„Nichtsdestotrotz bin ich ein Rind, das Schwierigkeiten hat, aufrecht zu stehen“, erwiderte Kafka, „und du bist nur ein winziger Mistkäfer.“

Gregor Samsa schwieg. Er war nicht ansatzweise imstande, Kafka bei frostigen 2 Grad Celsius aus seinem Zimmer in der Heidestraße in Berlin-Zehlendorf herauszuziehen.

„Wäre ich doch nur ein riesiger Mistkäfer, dann könnte ich dich aus dem Zimmer zerren“, lamentierte Gregor Samsa. „Leider bin ich nur ein sehr kleines Tier. Dann brauche ich nur zu Gott zu beten, er möge dich in eine winzige Kuh verwandeln und mich in einen riesigen Mistkäfer.“

Kafka fühlte seinen widerwärtigen Buckel und versuchte erneut, aufzustehen, scheiterte aber. Er rief nach Dora, aber die Antwort seiner Geliebten stimmte ihn missmutig.

„Muhe doch nicht wie ein Rind, Liebling“, sagte Dora, „Schlaf wieder ein!“

Oh, sogar Dora hält mich für ein Rind, dachte Kafka. Wie beschämend, wenn sie dieses Tier mit Buckel, Wamme und dem Maul voller Speichel im Zimmer ihres Geliebten entdeckt. Ich muss sofort eine Strategie entwickeln, wie ich dieses Problem lösen kann. Und diesen Plan kann nur ein Rind ausführen. Weil allerdings nur Gregor Samsa meine Stimme hören kann, werde ich meine Bitte an diesen idiotischen reisenden Handelsvertreter richten.

„Gregor“, rief Kafka, „ich bin davon überzeugt, mich irgendwann in einen Menschen zurück zu verwandeln. Ist dies geschehen, bitte ich dich um Folgendes: Erstens, all meine handschriftlichen Werke zu retten. Zweitens, all meine bereits gedruckten und zu druckenden Werke einschließlich der Meditationen zu verbrennen. Es ist mein Wunsch, dass die Verehrer meiner Literatur durch das Lesen meiner Werke dümmer werden. Drittens  möchte ich dir mitteilen, dass Die Verwandlung wirklich ein Werk für den Müll ist. Lese sie niemals – am allerwenigsten, wenn du mit der Bahn fährst.“

Gregor, der noch in Kafkas Ohr saß, nickte. Er dachte, Kafka hätte sich eigentlich in eine Erbse verwandeln sollen oder in eine Erdnuss im Teigmantel. Wir könnten dann leicht auf die Straße rollen, wenn das von Kafka gemietete Haus in Flammen aufginge. Ich halte Erbsen und Erdnüsse bei weitem für mehr sexy als bucklige Tiere.

Zunehmend verwirrt durch diese Situation, die sich nicht sogleich wieder normalisierte, summte Gregor: „Deine Geschichte ist mir gleichgültig. Sollten wir nicht versuchen, den besten Weg zu finden, wieder Menschen zu werden?“

„Wieder Menschen zu werden?“, kicherte Kafka, „Glaubst du noch, dass die Menschen die edelsten Geschöpfe sind?“

„Gewiss“, entgegnete Gregor Samsa, der sich in seiner menschlichen Würde durch seine Tiergestalt erniedrigt fühlte.

„Du irrst dich, Gregor“, erklärte Kafka. „Vielleicht sind die Menschen sogar die verachtenswertesten Geschöpfe geworden und Gott hat uns deshalb in Tiere verwandelt.“

„Nun, wenn der Mensch schon als stinkendes Geschöpf betrachtet wird, warum verwandelst du dich nicht einfach in ein Nashorn und ich in einen Schmetterling?“

„Warum müssen es gerade ein Nashorn und ein Schmetterling sein?“

„Was stört dich denn an einem Nashorn und einem Schmetterling?“

„Glaubst du, dass ich, nachdem wir ein Nashorn und Schmetterling geworden sind, nach dem Aufwachen immer noch ein Nashorn sein werde und du ein Schmetterling? Oder glaubst du, dass wir morgen früh immer noch dasselbe Nashorn und derselbe Schmetterling sein werden? Ich denke, es ist sinnlos, jetzt zu diskutieren, was wir werden möchten? Adam hat auch nie gefragt, warum er Adam werden musste, warum der Wind der Wind wurde, der Nebel der Nebel und Jesus Jesus. Wir sollten uns lieber Gedanken machen, wie wir aus dieser misslichen Lage herauskommen.“

Franz Kafka und Gregeor Samsa verfielen in tiefes Nachdenken.

„Wie wäre es, wenn du deinem engen Freund Max Brod einen Brief schreibst, ob er uns aus dieser absurden Situation befreien kann?“

„Einen Brief schreiben? Rede kein dummes Zeug! In meinem Zustand kann ich unmöglich Briefe schreiben.“

Gregor Samsa war über Kafkas Antwort amüsiert. Er wunderte sich, warum er selbst noch sein menschliches Gehirn benutzte, obwohl er ein Mistkäfer geworden war. Aber er wollte nicht in ein verwirrendes Gedankenlabyrinth geraten. Deshalb ermunterte er Kafka, noch intensiver nachzudenken.

„Eigentlich ist es einfach, uns aus dieser absurden Situation zu befreien“, sagte Gregor. „Wir werden unsere Situation nicht als absurd empfinden, wenn wir alles, was uns passiert, für normal halten.“

„Wie meinst du das?“

„Du wirst meine Absicht verstehen, nachdem du einige Fragen beantwortet hast. Erstens, ist das Zimmer, in dem wir uns jetzt befinden, für dich der Himmel? Wenn ja, dann bedeutet es, dass wir uns daraus nicht befreien müssen. Wir akzeptieren unser Schicksal, ein Rind und ein Mistkäfer geworden zu sein. Zweitens, ist es dir wichtig, dass der Welt berichtet wird, dass Kafka noch lebt, von der Tuberkulose geheilt ist und lächerliche Geschichten über die Vertreibung der Juden schreibt? Wenn nicht, müssen wir niemanden darum bitten, ein Rind und einen Mistkäfer in Menschen zu verwandeln. Drittens, möchtest du noch immer der Welt erzählen, dass es Kafkas sehnlichster Wunsch ist, ein Kampfhund zu werden? Wenn nicht, lass uns einfach unser Leben in Ruhe in diesem Zimmer verbringen. Meditieren, bis wir alt werden. Bis niemand mehr unseren Zustand beachtet.“

Kafka bemühte sich, Gregor Samsas Fragen und Erkenntnisse zu interpretieren.

„Ich weiß keinerlei Antwort auf deine drei Fragen“, sagte Kafka. „Ich stelle mir gerade vor, wie unsere Körper allmählich auf die zehnfache Größe anwachsen, bis sie die Wände dieses Zimmers durchbrechen. Ich denke, das ist kein absurder Gedanke, denn ein Rind und ein Mistkäfer zu werden ist ja auch nicht absurd.“

„Durchbrechen?“, kicherte Gregor Samsa. „Durchbrechen ist das schönste Wort auf der Welt. Ja, wir werden die Zimmerwände auf mehrfache Weise durchbrechen.“

Kafka schwieg. Ihm war bewusst, dass er die Wand im Moment unmöglich durchbrechen konnte. Es war unvorstellbar schwer, sich mit diesem fetten Körper mit Buckel und Wamme überhaupt zu bewegen. Noch schwieriger sich hinzustellen. Fast unmöglich den Kopf zu bewegen, die Hörner gegen die Wand zu stoßen.

„Denkst du, dass ich dir nicht helfen kann? Denkst du etwa, dass eine Figur, die du geschaffen hast, nichts erreichen kann?“

Kafka nickte.

„Du hast wohl vergessen, dass ich ein reisender Handelsvertreter bin. Du hast vergessen, dass ein reisender Handelsvertreter einen Instinkt besitzt, zur rechten Zeit aufzustehen, sich eilig die Schuhe anzuziehen, wie ein verrückt gewordener Hund zu rennen, um den Zug noch zu erreichen und sich jederzeit durch die Zimmertür befreien kann.“

Kafka nickte, konnte aber immer noch nicht erraten, was Gregor Samsa vorhatte.

„Schließe die Augen, Kafka, und fühle, wie dunkel unsere Welt ist.“

Kafka schloss seine Augen. Er hatte seine Augen noch nicht lange geschlossen, da konnte er sich nicht mehr darauf konzentrieren, das Gefühl der Dunkelheit zu genießen, weil er einen stehenden Schmerz an seinem Ohr spürte.

„Gregor, Gregor“, rief Kafka. „Beiße mir nicht ins Ohr. Sofort raus aus meinem Ohr!“

Gregor Samsa kümmerte sich nicht darum. Er biss immer wieder in Kafkas Ohr. Biss, biss und biss, bis Kafka, dieses riesige Buckelrind mit Wamme, schnaubte, sich erhob, und um den Schmerz zu lindern, gegen die verschiedensten Gegenstände polterte.

Die Schreibsachen wurden verwüstet, die Bücher durcheinander geworfen. Das Bett zerbarst.

„Gregor“, schrie Kafka erneut. „hör auf zu beißen!“

Er erhielt keine Antwort. Gregor biss ihn so lange, bis es ihm schließlich gelang die Zimmerwände zu durchbrechen und ins Freie auf die Straße zu laufen. Da rief Dora Diamant: „Warum schnaubst du wie ein Rind, Liebling. Lass dieses absurde Geräusch!“

Aber Kafka hörte ihr Rufen nicht. Er hörte auch die Menschen auf der Straße nicht, die sagten: „Kafka, warum krabbelst du nachts auf der Straße herum?“

Nachdem er eine Zeitlang die Strommasten und die vorüberfahrenden Kutschen betrachtet hatte, sagte Kafka schließlich zu Gregor Samsa: „Es hat sich nicht gelohnt, das Haus zu verlassen. Lass uns zurück ins Zimmer gehen. Schlafen und morgen mit neuer Erfahrung, neuer Hoffnung aufwachen.“

„Neuer Hoffnung?“, fragte Gregor Samsa. „Du glaubst noch, dass wir neue Hoffnung schöpfen werden?“

Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus dem noch unveröffentlichten Roman „Metamorkafka“ von Triyanto Triwikromo.

© Triyanto Triwikromo, Gudrun Ingratubun

Feby Indirani: Baby will Muslima werden

Die Ratssitzung war sogleich in eine ausgelassene Stimmung geraten, als Kyai Fikris Anliegen vorgebracht worden war, nämlich dass ein Schwein namens Baby zum Islam konvertieren wolle. Aus mehreren Ecken des Raumes hörte man Astaghfirullah-Rufe, bevor eine Vielzahl von Händen gleichzeitig emporschnellte, um die Gelegenheit zu erhalten, sich dazu zu äußern. Andere Besucher der Sitzung hielten das nicht für nötig und redeten gleich drauflos. Der Leiter der Sitzung war mit diesem Ansturm überfordert und ordnete schließlich eine Pause von 30 Minuten an.

Dann beschloss der Rat, Kyai Fikri als den Urheber dieser Kontroverse zur nächsten Sitzung zu laden.

Doch Kyai Fikri entgegenzutreten war nicht so leicht, weil er ein bekannter, von vielen verehrter Kyai war. Er war nicht groß, schlank, schon fast mager. Aber sein Blick war scharf und klar. Er besaß eine starke Aura, die ihm die Bewunderung der Menschen eingetragen hatte. Sein Alter war von seinem Erscheinungsbild her schwer zu schätzen. Er wirkte reif, mit seinem kurzen, gepflegten Bart, gleichzeitig aber relativ jung durch sein agiles Auftreten.

Sprach er mit seiner tiefen Stimme einen Gruß, herrschte im ganzen Raum augenblicklich Stille.

„Baby hat ihren ernsthaften Willen gezeigt, sich zum Islam zu bekennen und ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass eine gute Anleitung wen auch immer verändern und berühren kann. Und wenn wir überzeugt sind, dass der Islam für Gerechtigkeit steht, sollten wir, denke ich, Baby eine Chance geben.”

„Entschuldigung Kyai”, sagte ein Besucher der Sitzung, „bedeutet das, dass Baby dann ihr verabscheuungswürdiges Verhalten ändern würde?”

„Verabscheuungswürdig aus unserer Perspektive, weil sie anders ist als wir. Baby wird weiterhin ein Schwein bleiben, gemäß sunnatullah, dem göttlichen Naturgesetz.”

Flüstern erfüllte den Raum. Ein junger Teilnehmer hob den Arm. Kyai, ich würde gern wissen, warum Sie sich so für Baby einsetzen, aber vorher wüsste ich auch noch gern, wie Sie überhaupt mit Baby in Kontakt gekommen sind. Ist es nicht ein verbotenes Tier?”

„Ich bin Tierzüchter, und unter anderem halte ich auch Schweine”, entgegnete Kyai Fikri ruhig. „Es ist verboten Schwein zu essen, aber nicht es zu züchten, nicht wahr?” Ein Gemurmel erhob sich. Der Kyai ist ein Ketzer, flüsterten sie.

„Entschuldigung Kyai, aber wozu?”

„Ich gebe sehr armen Leuten in einem Dorf zu Essen. Und andere Tiere sind zu teuer. Ein Schwein bekommt, wenn es einmal trächtig ist, bis zu 20 Ferkel. Es gehört zu den Tieren, die den meisten Nachwuchs hervorbringen. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, Schweine zu halten.”

„Wie können Sie es ertragen, den Armen Schweinefleisch als Essen zu geben?”

„Die Menschen dort sind wirklich sehr arm und sie sind keine Muslime. Es wäre ein Luxus mit ihnen über Religion zu sprechen, ihre Religion ist vielleicht nur Essen und sauberes Wasser”. Der Blick des Kyais streifte die Versammlungsteilnehmer, die ihre Blicke unverwandt auf ihn gerichtet hatten.

„Ich übernachte oft in dem Dorf, verbringe Zeit mit den Menschen, schlafe in einer kleinen Musholla, nicht so weit vom Schweinestall entfernt. Ich bete und rezitiere den Koran dort wie überall, wo ich mich aufhalte. Als ich dann einmal hinaus ging, stand da ein weibliches Schwein, das mich immerzu ansah, als ob es auf mich gewartet hätte. Als ob es immer etwas sagen wollte. Dieses Schwein ist schon relativ alt, es ist 15 Jahre alt und kann keine Ferkel mehr bekommen. Da es sehr oft geschah, dass es auf mich zu warten schien, wenn ich aus der Musholla trat, als ob es mir etwas sagen wollte, habe ich ihm den Namen Baby gegeben und es schien zu verstehen, dass das der Name ist, den ich ihm gegeben habe.“

Er schwieg einen Moment und holte Luft. „Mit Allahs Erlaubnis konnte es seinen Wunsch äußern und ich habe seine Absicht verstanden. Es sagte, dass es gerne Muslima werden würde, für die verbleibenden Tage seines Lebens. Es weiß, dass es bald an der Reihe ist, geschlachtet zu werden und es wünscht, dass seine Bitte erfüllt wird”

Plötzlich geriet die Atmosphäre im Raum wieder in Aufruhr, weil so viele Menschen durcheinander sprachen, miteinander debattierten, sich empörten.

„Wie kann ein verehrter Kyai mit Baby seine Zeit verbringen?”

„Das werden wir nicht zulassen! Alles was mit Schweinen zu tun hat, ist haram. Die ganze Existenz des Schweins. Punkt.”

„Ist es unser Recht, jemanden davon abzuhalten, sich zum Islam zu bekennen? Ist der Islam nicht gütig gegenüber der Natur?”

„Hatte Baby denn bisher eine Religion? Warum möchte sie gerade jetzt Muslima werden?”

„Wenn ihr Baby verbietet dem Islam beizutreten, verhaltet ihr euch nicht gerecht. Und so ein Verhalten hassen Allah und auch der Prophet.”

„Aber wollen wir alle die gleiche Religion wie Baby haben? Das würde den Grad unserer Menschlichkeit herabsetzen.”

„Unser Körper und Baby ähneln sich sehr. Unsere DNA entscheidet sich nur zu 3 % von der der Schweine. Genau genommen sind wir ihnen näher als wir uns vorstellen.”

„Und soll sie dann dem Islam beitreten? Und Babys Merkwürdigkeiten kennen wir doch schon. Ihren schmutzigen und faulen Charakter. Weiterhin ihre unklare Stellung unter den Tieren, man kann das Schwein als wildes Tier bezeichnen, weil es Reißzähne hat und Fleisch frisst, andrerseits ähnelt es auch einem zahmen Tier, weil es Pflanzen und Blätter frisst ”

„Habt ihr das gehört? Es soll uns immer ähnlicher sein!”

Von überall hörte man erneut „Astaghfirullah“-Rufe. Niemand verstand mehr, was der andere sagte. Jeder war nur mit seiner eigenen Meinung beschäftigt. Der Sitzungsleiter setzte eine zweistündige Pause

an, um der Situation Herr zu werden. Die Teilnehmer bildeten sogleich Gruppen, die in ihrer Sichtweise zusammen passten. Alle Teilnehmer konkurrierten mit ihren Argumenten, wie man mit dem Problem Baby umgehen solle.

Die Sitzung begann wieder und die Mitglieder wurden gebeten abzustimmen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die erste Gruppe, die am größten war, ungefähr 40 % der Teilnehmer waren klar gegen die Aufnahme Babys in den Islam. Für sie gab es da kein Abwägen und keinen Kompromiss.

Währenddessen waren ungefähr 35 % zwar prinzipiell nicht für die Aufnahme Babys, meinten aber, man müsste trotzdem noch Babys Sicht hören. Sie waren der Meinung, dass sich die Ratsversammlung politisch korrekt verhalten und das Prinzip der Gerechtigkeit befolgen müsste. Die folgende Gruppe unterstütze mit 23 % Kyai Fikri. Diese Gruppe war zwar relativ klein, aber ihre Stimmen hatten für gewöhnlich Einfluss auf die Mehrheit der Mitglieder wegen ihrer gesellschaftlichen Position und ihres von der Allgemeinheit geachteten sozialen Status. Unter ihnen gab es auch Leute, die nur zustimmten, weil sie Kyai Fikri und seine Einzigartigkeit bewunderten. Die übrigen Mitglieder enthielten sich der Stimme. Sie hatten an keinerlei Konfliktfragen Interesse.

Die Gruppen debattierten mit ihren Argumenten untereinander, doch es konnte noch keine Entscheidung getroffen werden, weil es keine Mehrheit gab. Schließlich musste die Sitzung wegen des fortgeschrittenen Abends unterbrochen werden, um sie am nächsten Tag fortzusetzen.

In dieser Zwischenzeit wurde die Gruppe der 35 % umworben. Die beiden anderen Lager versuchten sie von ihrer Position zu überzeugen. Die Gruppe der 40 % dachte, da sie ja nur noch wenige zusätzliche Stimmen benötigten, um die Mehrheit der Stimmen zu erreichen, dass es viel einfacher wäre, wenn die Gruppe der 35 % nicht so ethisch argumentieren würde. Warum betonten sie die Ethik so? Das Ergebnis war doch klar: nicht zuzustimmen. Aber die 35 %-Gruppe bestand aus Leuten, für die das Verfahren sehr wichtig war und die unbedingt wollten, dass der Rat in der Öffentlichkeit gut dastand.

Die 23 %-Gruppe hingegen hatte eine prinzipiell andere Handlungsweise. Sie ärgerte sich über die 35 %-Gruppe, die ihrer Meinung nach die Wirkung auf andere zu sehr in den Fokus stellte, unbedingt gelobt werden wollte und nicht konsistent war. Doch die 35 %-Gruppe stellte eine signifikante Menge dar und wollte ein gerechtes Verfahren anwenden, auch wenn es pure Kosmetik war. Die 23 %-Gruppe dachte, dass es schon ein großer Schritt nach vorn wäre, wenn sie wenigstens erreichen könnte, dass Baby zu einer Sitzung kommen durfte, verbunden mit der Möglichkeit, dass ihr Wunsch doch noch die Zustimmung des Rates erhielte – wie gering die Wahrscheinlichkeit auch sein mochte.

Die Debatte und die Verhandlungen waren sehr zäh, sogar nur über die Möglichkeit Baby zur nächsten Ratssitzung einzuladen. Denn für viele Teilnehmer wäre das die erste Interaktion ihres Lebens mit einem Schwein gewesen. Die Sitzung wurde ohne Ergebnis für 2 Tage unterbrochen.

Nach diesem langen Prozess schritten die Ratsmitglieder zur endgültigen Abstimmung. Das Ergebnis war, dass der Rat es offiziell ablehnte, dass Baby eine Muslima wurde.

Das Gesicht Kyai Fikris verdunkelte sich. Er bat um ein letztes Wort, bevor die Sitzung offiziell für beendet erklärt wurde.

„Unabhängig vom Ergebnis bedanke ich mich für den Prozess der Entscheidungsfindung, der harte Arbeit von allen Ratsmitgliedern verlangt hat. Ich hasse es Baby enttäuschen zu müssen, aber ich werde in das Dorf zurückkehren und ihr folgendes sagen: Jeder kann Moslem oder Muslima werden, indem er sagt: ‚Es gibt keinen wahren Gott außer Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes.‘“ Kyai Fikris Augen wurden feucht. „Es gibt nichts, was jemanden davon abhalten könnte, Moslem zu werden. Sogar Muslime können dies nicht verhindern. Das werde ich Baby sagen.”

Der Raum war ganz still geworden und einige Mitglieder waren bewegt, dachten an Baby, die durch ihre Ablehnung am Ende ihres Lebens enttäuscht worden war. Aber die Entscheidung war ja bereits getroffen und sie verabschiedeten sich voneinander, baten einander um Verzeihung und bedankten sich für den Prozess der dreitägigen Sitzung. Während die Menschen nach draußen strömten, nahm ein Ratsmitglied Kyai Fikris Arm und flüsterte ihm ins Ohr.

„Kyai, kann ich mit ins Dorf kommen?”, fragte er und wurde dabei rot. „Wenn Baby sich schon zum Islam bekannt hat, würde ich gern mitkommen und ihr Fleisch probieren.”

Übersetzt aus: Feby Indirani: Bukan Perawan Maria; Paperback, Pabrikultur, 2017

© Feby Indirani, Gudrun Ingratubun

Feby Indirani: Die Frau, die ihr Gesicht verlor

Eines Morgens erwachte Annisa und sah in den Spiegel. Da stellte sie fest, dass sie keine Nase mehr hatte. „Astaghfirullah!“, rief sie laut. Wäre Razi, ihr Mann, zu Hause, wäre er wahrscheinlich schon aus seinem Lieblingsschaukelstuhl aufgesprungen. Doch Razi befand sich gerade auf einer Dienstreise und würde erst in fünf Tagen zurückkehren. „Oh Gott, was soll ich nur tun?“ Annisa geriet in Panik.

Für einige Zeit vergrub sie ihr Gesicht im Kopfkissen. Der Spiegel in ihrem Zimmer wurde zu einem angsteinflößenden Gespenst. Stundenlang weinte sie und beklagte ihr Schicksal. Wie hatte es passieren können, dass ihre Nase über Nacht verschwunden war?

Genauer gesagt hatte sie einen schlanken Nasenrücken und eine rundliche, liebenswerte Nasenspitze gehabt. Was nun übrig geblieben war, waren die beiden Nasenlöcher und die unteren Hälften der Nasenflügel. Sie hatte keinerlei Schmerzen und konnte wie gewohnt ein und ausatmen, durch eben diese Nasenlöcher, die bis vor Kurzem ihre Nase gewesen waren. Doch wie unbeschreiblich hässlich sah ihr Gesicht ohne Nase aus!

Annisa hegte noch die Hoffnung, dass dies alles nur ein böser Traum gewesen sein könnte. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie nicht geträumt hatte. Sie hatte keine Nase mehr, oder präziser gesagt, keinen Nasenrücken. Sie war erschüttert. Doch jetzt versuchte sie rational zu denken, verschiedene mögliche Schritte abzuwägen. Sollte sie sich an einen Arzt im Krankenhaus wenden? Ja, das würde sie tun. Nein, dafür würde sie lieber erst Razis Rückkehr abwarten. Aber sie wollte Razi nicht jetzt kontaktieren, denn sie wollte seine Konzentration bei der Arbeit nicht stören. Außerdem vermutete sie, dass das Wiederherstellen ihrer Nase eine beträchtliche Summe kosten könnte. Und als gute Ehefrau sollte sie einen so großen Betrag nicht ausgeben, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes eingeholt zu haben. Ins Krankenhaus zu gehen hatte auch keine große Dringlichkeit, denn sie hatte ja keinerlei Schmerzen.

Ja, es handelte sich um ein ästhetisches Problem, ihre Gesundheit war nicht in Gefahr. Obwohl sie sich in ihren Grundfesten erschüttert fühlte, wusste Annisa doch instinktiv, dass ihr Zustand nicht lebensbedrohlich war.

Gut, dies war nicht das Ende der Welt. Sie atmete normal. Annisa musste nur heute wie gewöhnlich aus dem Haus gehen. Sie zog ihr dunkelblaues Kopftuch an, kombiniert mit einem Gesichtsschleier, dem Niqab, der ihr Gesicht bis auf die Augen und Augenbrauen verdeckte. Welch Glück, dass ich einen Niqab trage, dachte Annisa erleichtert.

Für einen Moment fokussierte Annisa sich auf die Dinge, die heute zu erledigen waren: die Schule, die von ihrer Familie betrieben wurde, besuchen und eine Versammlung mit den Lehrern abhalten. Sicherstellen, dass die Renovierung des Schulgebäudes sofort beginnen konnte, vor Beginn des Schuljahrs. Vielleicht würde sie auch an einem Treffen mit der Baufirma teilnehmen. Das wäre dann eine Sitzung nach der anderen. Danach hatte sie geplant, sich ein bisschen zu pflegen und in einen Schönheitssalon für Muslimas zu gehen. Aber das würde sie lieber absagen, sie wollte die Mitarbeiterinnen nicht mit ihrem Anblick erschrecken. Vielleicht würde sie anschließend lieber direkt in den Supermarkt gehen, um Lebensmittel einzukaufen.

In Gedanken versunken fuhr sie ihr Auto sehr langsam. Als sie das Schultor erreichte, begann ihr Herz laut zu schlagen. Sie fühlte sich nicht dazu bereit, in ihrem Zustand viele Menschen zu treffen. Sie wandte ihren Blick in den Rückspiegel und sah den Niqab, der ihr Gesicht verdeckte. Man sieht keinen Unterschied, sagte sie sich. Niemand wird bemerken, ob ich eine Nase habe oder nicht, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.

Drei mit Kopftüchern bekleidete Mädchen rannten zu ihrem Auto, als sie ausstieg. Die Schülerinnen begrüßten sie mit einem respektvollen Handkuss.

„Frau Nisa… Frau Nisa…“, riefen die Kinder. Weil sie ihr Auto genau kannten, begrüßten sie Annisa mit ihrem Namen, bevor sie sie sehen konnten.

Die Mädchen trugen einfache weiße Kopftücher, die ihr Gesicht frei ließen. Sie lächelten, während Annisas Hand einer nach der anderen den Kopf streichelte. Annisas Blick fiel auf ihre Nasen.

Annisa betrat den Versammlungsraum der Lehrer, wo sie schon erwartet wurde. Die Sitzung nahm ihren Lauf und hier gelang es Annisa ihre eigenen Probleme zu vergessen. Als die Gebetszeit kam, wurde Annisa wieder an ihre Probleme erinnert. Aber sie hatte einen speziellen sehr privaten Raum an der Schule. Dort konnte sie unbeschwert beten ohne zu befürchten, dass jemand einen Blick auf ihr unverhülltes Gesicht werfen konnte.

Trotzdem war sie nur mit halben Herzen bei ihrem Gebet, sie fühlte sich wie jemand, der sich versteckt, wie jemand, der Angst hat. Du musst stark sein, Nisa, du musst stark sein, sprach sie sich selbst Mut zu. So gestaltete Annisa ihren Tag, sie konzentrierte sich so gut wie möglich auf die Menschen, denen sie begegnete, und versuchte, für deren Probleme eine Lösung zu finden. Oft musste sie selbst die letzte Entscheidung treffen.

Diese Schule war damals von ihren Eltern gegründet worden, und Annisa war es wichtig für das Fortbestehen der Schule zu sorgen. Sie war dankbar, dass Razi damit einverstanden war, dass sie die Schule weiter führte. Razi unterstütze auch die Vision der Schule, eine gläubige junge Generation auszubilden, für die die religiöse Bildung wichtiger war als alles andere.

Das letzte das sie heute zu erledigen hatte, war der Besuch im Supermarkt. Das konnte ja nicht so schwer sein, dachte sie, wo ich diesen Tag schon bis hierhin gemeistert habe. Aber heute war es ihr besonders unangenehm unter den vielen Leuten. Annisa bemerkte einige Menschen, die sie mit neugierigen Blicken musterten. Das war bestimmt wegen ihres Niqabs.

Einen Gesichtsschleier zu tragen war in Jakarta nichts Gewöhnliches, obwohl sie durchaus nicht die Einzige war. Nach den drei Jahren, die sie den Niqab nun auf Wunsch ihres Ehemanns trug, war sie schon an die vorwitzigen Blicke gewohnt. Besonders wenn sie sich in einem Restaurant aufhielten, schauten noch mehr Menschen sie unverhohlen an, die wissen wollten, wie sie es bewerkstelligte, mit einem Gesichtsschleier zu essen. Anfangs hatte es sie gestört, aber dann gewöhnte sie sich daran und beachtete es nicht weiter.

Zu Beginn hatte Nisa Razis Bitte, ein Niqab zu tragen, abgelehnt, obwohl sie schon seit ihrer Jugend Kopftuch trug. Niqab zu tragen war doch noch etwas anderes. Aber laut Razi war es der richtigere, auf den religiösen Geboten basierende Weg.

„Man sollte den religiösen Weg Kaffah gehen, der sich auf alle Lebensbereiche bezieht, Ummi“, hatte Razi mit sanfter, liebevoller Stimme zu ihr gesagt. „Insbesondere weil du so eine schöne Frau bist. Auch wenn Du ein Kopftuch trägst, ist deine Schönheit noch deutlich sichtbar. Und ich bin oft auf Dienstreisen, besuche andere Orte. Da ist es mir nicht angenehm, wenn meine Frau die Blicke anderer Männer auf sich zieht“, ergänzte er sanft und strich ihr dabei übers Haar. Verhielt er sich ihr gegenüber auf diese Weise, schmolzen Nisas Einwände dahin. Razi zwang ihr nie seinen Willen auf, aber er schmeichelte ihr und erläuterte ihr, was er für richtig hielt und wie eine fromme Ehefrau sich verhalten sollte.

Schließlich, wenn auch ein wenig halbherzig, entsprach sie dem Wunsch ihres Ehemanns, einen Niqab zu tragen. Er hatte auch recht behalten, mit Niqab fühlte sie sich tatsächlich sicherer und geschützter vor den Blicken fremder Männer.

Doch Niqab zu tragen machte ihr manchmal das Leben auch schwerer. Ja, wie zum Beispiel beim Essen im öffentlichen Raum. Oder wegen des feucht-heißen Klimas in Jakarta. Oder wenn sie im Einkaufszentrum oder sonst irgendwo in der Öffentlichkeit Freunde traf. Annisa musste lauter rufen, wenn sie Freunde sah, die sie lange nicht getroffen hatte und die sie bestimmt nicht erkennen würden, weil ihr Gesicht verdeckt war.

Manchmal, wenn ihr die Energie dazu fehlte, entschied sie sich auch, an ihr vorbeigehende Freunde von früher nicht anzusprechen. Eigentlich machte es ja keinen Unterschied, sie würden es ohnehin nie erfahren. Trotzdem beschlich sie dann das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, insbesondere wenn es gute Freunde von früher betraf.

An jenem Tag zum Beispiel sah sie Arifin ganz deutlich, einen Mann, der ihr, puh, einmal sehr nahe gestanden hatte. Hm. Nahe, dieses Wort beschreibt ihr Verhältnis nur unzureichend. Treffender wäre zu sagen, dass sich Arifin für einige Zeit darum bemüht hatte, sie näher kennenzulernen und als Verlobte zu gewinnen, bis sie sich dann schließlich für Razi entschieden hatte.

Arifin stand nur wenige Meter von ihr entfernt, in der Obstabteilung des Supermarktes. Annisa spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Der Mann sah immer noch so gut aus wie in ihrer Erinnerung. Er war etwas fülliger geworden, nicht mehr so schlank wie damals als Student.

Sollte sie ihn ansprechen oder nicht? Ansprechen oder nicht. Annisa befand sich plötzlich in einem Dilemma. Sie sah weiterhin zu, wie Arifin mit der Hand Orangen auswählte, ohne zu bemerken, dass ihm ein Augenpaar mit aufgewühlter Brust dabei folgte.

So ist es halt für eine Frau, die Niqab trägt. Annisa erlebt es oft, dass die Entscheidung, ein Freundschaftsband weiterzuführen, in ihrer Hand lag. Sie konnte bestimmen, ob sie sich zu erkennen gab oder nicht. Trüge sie keinen Niqab, hätte sie Arifin auf die kurze Entfernung hin mit großer Wahrscheinlichkeit erkannt und zuerst angesprochen – so dass Annisa nicht ihren Stolz hätte überwinden müssen. Andererseits war der Gedanke, in der jetzigen Situation keinen Niqab zu tragen und einen Mann aus ihrer Vergangenheit zu treffen, auch nicht vorteilhaft.

Nicht, wenn sie keine Nase mehr hatte.

Jetzt oder nie. Annisa sprach sich Mut zu, um Arifin anzusprechen. Sie würde einen Gruß sagen und den Mann ansprechen, der sicher ihre Stimme erkennen würde. Und wenn auch nur für eine kurze Weile, würde Annisa sich mit ihm unterhalten und sehen wie er darauf reagierte, sie zu treffen.

„Brauchst du so lange? Komm, sonst verpassen wir den Anfang des Films…“, näherte sich eine Frau Arifin und strich ihm über den Rücken, in dem Moment, als Annisa auf ihn zugehen wollte.

Die Frau war hübsch, trug kein Kopftuch, wirkte wie eine junge berufstätige Frau, mit wohlgeformten Augenbrauen und leuchtend pinkem Lippenstift. Annisa gelang es gerade noch, einen Blick auf ihre kleine Nase zu werfen, die mit ihrem ovalen Gesicht harmonierte. Annisa wandte sich vom Anblick der beiden ab und schritt in Richtung Kasse. War sie seine Frau? Seine Partnerin? Der Körpersprache nach zu urteilen standen sie sich nahe. Die Frage, die sich mit aller Macht in ihren Kopf drängte, war die, wie es möglich war, dass Arifin sich mit einer Frau befreundet hatte oder gar mit ihr liiert war, die nicht zu ihrer Gruppe gehörte. Früher war Arifin einer der von vielen bewunderten Leiter ihrer Rezitationsgruppe gewesen, der die Ausdauer für lange Rezitationen besaß und voller Begeisterung war, die Religion zu verteidigen. Wie hatte er sich so schnell verändern können? Vielleicht weil er sie nicht hatte heiraten können?

Annisa war sehr aufgewühlt, als sie nach Hause zurückkam. Sie vermisste Razi, aber ihr Mann würde heute Abend noch nicht zurückkehren. Sie würde wieder allein schlafen müssen. Beim Abendgebet weinte sie bitterlich, fühlte sich leer.

Sie schickte ihrem Mann eine SMS: „Abi, ich habe Sehnsucht nach dir. Ich kann es nicht erwarten, bis du nach Hause kommst. Abi, wenn ich nicht mehr hübsch bin, wirst du mich dann immer noch lieben?“

Ihre Nachricht wurde nicht gelesen. Da wo ihr Mann arbeitete, gab es in der Tat oft kein Signal. Anisa holte tief Luft und versuchte zu schlafen. In ihrem Traum schien jemand eine Skizze von ihrem Gesicht zu malen, ihr welliges, ungeordnetes Haar. Ihr Haar, das sie sich auf den Wunsch ihres Mannes hin hatte lang wachsen lassen. Sie schien hinter dem Maler zu stehen und beobachtete, wie er das Gemälde von ihrem Gesicht vervollständigte und bewunderte ihre eigene Schönheit in dem Gemälde. In dem fast vollendeten Gemälde. Doch dann erschrak sie, denn plötzlich trug der Maler weiße Farbe auf ihre Nase auf, zerstörte das Bild von ihrem Gesicht.

„Nicht doch! Warum? Nein!“ Sie spürte, wie ihre Hand an der Schulter des Malers rüttelte. Doch der Maler ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Er steuerte mit seinem Pinsel auf den Mund des Bildes zu. So zerstörte er das eben noch schöne Gesicht immer mehr. Es blieben nur noch zwei schöne Augen übrig. Nun hielt der Maler seinen Pinsel genau über die Augen, als ob er gerade überlegte, abwartete, was ihm sein Herz sagen würde.

„Nein… nein…“, Annisa schüttelte den Maler erneut. In diesem Moment wachte sie auf. Sie hatte kein Zeitgefühl. War es noch Nacht? Begann der Morgen schon zu grauen? Hatte sie den Morgengebetsruf überhört?

Annisa fühlte die Überreste getrockneter Tränen auf ihren Wangen. Sie befühlte ihr Gesicht, zögernd und ängstlich. Sie ertastete den Ort, an dem sie bis vor Kurzem eine Nase gehabt hatte. Sie fühlte nichts. Ihre Finger bewegten sich langsam und wollten ihre Lippen berühren.

Es war als hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie konnte ihre Lippen nicht mehr fühlen. Sie bewegte ihren Mund und konnte ihren eigenen Atem aus dem verbliebenen Loch spüren. Aber sie fühlte ihre Lippen nicht mehr. Annisa fühlte sich völlig erschöpft. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft schleppte sie sich zum Spiegel.

Annisa sah ihr Gesicht, genauer gesagt das, was von ihrem Gesicht noch übrig war. Die Löcher ihrer früheren Nase, das Loch ihres früheren Mundes. Vom Weinen zugeschwollene Augen, durch die Augenlider verdeckt. Nur ihre schmalen Augenbrauen waren noch übrig. Niemand würde so ihr Gesicht erkennen können. Nicht mal sie selbst erkannte sich wieder. Annisa weinte immer heftiger.

Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, wurde Annisa sich dessen bewusst, das draußen noch viele Aufgaben auf sie warteten. Also nahm sie all ihre Kraft zusammen, legte Kopftuch und Niqab an. Ging aus dem Haus um ihren Tätigkeiten nachzugehen. Bevor sie ihr Auto startete, bekam sie eine SMS. „Ich liebe dich, was auch immer passieren mag. Pass gut auf dich auf. Der beste Schmuck ist eine fromme Frau. Und eine fromme Frau folgt den Worten ihres Ehemanns.“

Eines Morgens erwachte Annisa und sah in den Spiegel. Da stellte sie fest, dass sie keine Nase mehr hatte. „Astaghfirullah!“, rief sie laut. Wäre Razi, ihr Mann, zu Hause, wäre er wahrscheinlich schon aus seinem Lieblingsschaukelstuhl aufgesprungen. Doch Razi befand sich gerade auf einer Dienstreise und würde erst in fünf Tagen zurückkehren. „Oh Gott, was soll ich nur tun?“ Annisa geriet in Panik.

Für einige Zeit vergrub sie ihr Gesicht im Kopfkissen. Der Spiegel in ihrem Zimmer wurde zu einem angsteinflößenden Gespenst. Stundenlang weinte sie und beklagte ihr Schicksal. Wie hatte es passieren können, dass ihre Nase über Nacht verschwunden war?

Genauer gesagt hatte sie einen schlanken Nasenrücken und eine rundliche, liebenswerte Nasenspitze gehabt. Was nun übrig geblieben war, waren die beiden Nasenlöcher und die unteren Hälften der Nasenflügel. Sie hatte keinerlei Schmerzen und konnte wie gewohnt ein und ausatmen, durch eben diese Nasenlöcher, die bis vor Kurzem ihre Nase gewesen waren. Doch wie unbeschreiblich hässlich sah ihr Gesicht ohne Nase aus!

Annisa hegte noch die Hoffnung, dass dies alles nur ein böser Traum gewesen sein könnte. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie nicht geträumt hatte. Sie hatte keine Nase mehr, oder präziser gesagt, keinen Nasenrücken. Sie war erschüttert. Doch jetzt versuchte sie rational zu denken, verschiedene mögliche Schritte abzuwägen. Sollte sie sich an einen Arzt im Krankenhaus wenden? Ja, das würde sie tun. Nein, dafür würde sie lieber erst Razis Rückkehr abwarten. Aber sie wollte Razi nicht jetzt kontaktieren, denn sie wollte seine Konzentration bei der Arbeit nicht stören. Außerdem vermutete sie, dass das Wiederherstellen ihrer Nase eine beträchtliche Summe kosten könnte. Und als gute Ehefrau sollte sie einen so großen Betrag nicht ausgeben, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes eingeholt zu haben. Ins Krankenhaus zu gehen hatte auch keine große Dringlichkeit, denn sie hatte ja keinerlei Schmerzen.

Ja, es handelte sich um ein ästhetisches Problem, ihre Gesundheit war nicht in Gefahr. Obwohl sie sich in ihren Grundfesten erschüttert fühlte, wusste Annisa doch instinktiv, dass ihr Zustand nicht lebensbedrohlich war.

Gut, dies war nicht das Ende der Welt. Sie atmete normal. Annisa musste nur heute wie gewöhnlich aus dem Haus gehen. Sie zog ihr dunkelblaues Kopftuch an, kombiniert mit einem Gesichtsschleier, dem Niqab, der ihr Gesicht bis auf die Augen und Augenbrauen verdeckte. Welch Glück, dass ich einen Niqab trage, dachte Annisa erleichtert.

Für einen Moment fokussierte Annisa sich auf die Dinge, die heute zu erledigen waren: die Schule, die von ihrer Familie betrieben wurde, besuchen und eine Versammlung mit den Lehrern abhalten. Sicherstellen, dass die Renovierung des Schulgebäudes sofort beginnen konnte, vor Beginn des Schuljahrs. Vielleicht würde sie auch an einem Treffen mit der Baufirma teilnehmen. Das wäre dann eine Sitzung nach der anderen. Danach hatte sie geplant, sich ein bisschen zu pflegen und in einen Schönheitssalon für Muslimas zu gehen. Aber das würde sie lieber absagen, sie wollte die Mitarbeiterinnen nicht mit ihrem Anblick erschrecken. Vielleicht würde sie anschließend lieber direkt in den Supermarkt gehen, um Lebensmittel einzukaufen.

In Gedanken versunken fuhr sie ihr Auto sehr langsam. Als sie das Schultor erreichte, begann ihr Herz laut zu schlagen. Sie fühlte sich nicht dazu bereit, in ihrem Zustand viele Menschen zu treffen. Sie wandte ihren Blick in den Rückspiegel und sah den Niqab, der ihr Gesicht verdeckte. Man sieht keinen Unterschied, sagte sie sich. Niemand wird bemerken, ob ich eine Nase habe oder nicht, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.

Drei mit Kopftüchern bekleidete Mädchen rannten zu ihrem Auto, als sie ausstieg. Die Schülerinnen begrüßten sie mit einem respektvollen Handkuss.

„Frau Nisa… Frau Nisa…“, riefen die Kinder. Weil sie ihr Auto genau kannten, begrüßten sie Annisa mit ihrem Namen, bevor sie sie sehen konnten.

Die Mädchen trugen einfache weiße Kopftücher, die ihr Gesicht frei ließen. Sie lächelten, während Annisas Hand einer nach der anderen den Kopf streichelte. Annisas Blick fiel auf ihre Nasen.

Annisa betrat den Versammlungsraum der Lehrer, wo sie schon erwartet wurde. Die Sitzung nahm ihren Lauf und hier gelang es Annisa ihre eigenen Probleme zu vergessen. Als die Gebetszeit kam, wurde Annisa wieder an ihre Probleme erinnert. Aber sie hatte einen speziellen sehr privaten Raum an der Schule. Dort konnte sie unbeschwert beten ohne zu befürchten, dass jemand einen Blick auf ihr unverhülltes Gesicht werfen konnte.

Trotzdem war sie nur mit halben Herzen bei ihrem Gebet, sie fühlte sich wie jemand, der sich versteckt, wie jemand, der Angst hat. Du musst stark sein, Nisa, du musst stark sein, sprach sie sich selbst Mut zu. So gestaltete Annisa ihren Tag, sie konzentrierte sich so gut wie möglich auf die Menschen, denen sie begegnete, und versuchte, für deren Probleme eine Lösung zu finden. Oft musste sie selbst die letzte Entscheidung treffen.

Diese Schule war damals von ihren Eltern gegründet worden, und Annisa war es wichtig für das Fortbestehen der Schule zu sorgen. Sie war dankbar, dass Razi damit einverstanden war, dass sie die Schule weiter führte. Razi unterstütze auch die Vision der Schule, eine gläubige junge Generation auszubilden, für die die religiöse Bildung wichtiger war als alles andere.

Das letzte das sie heute zu erledigen hatte, war der Besuch im Supermarkt. Das konnte ja nicht so schwer sein, dachte sie, wo ich diesen Tag schon bis hierhin gemeistert habe. Aber heute war es ihr besonders unangenehm unter den vielen Leuten. Annisa bemerkte einige Menschen, die sie mit neugierigen Blicken musterten. Das war bestimmt wegen ihres Niqabs.

Einen Gesichtsschleier zu tragen war in Jakarta nichts Gewöhnliches, obwohl sie durchaus nicht die Einzige war. Nach den drei Jahren, die sie den Niqab nun auf Wunsch ihres Ehemanns trug, war sie schon an die vorwitzigen Blicke gewohnt. Besonders wenn sie sich in einem Restaurant aufhielten, schauten noch mehr Menschen sie unverhohlen an, die wissen wollten, wie sie es bewerkstelligte, mit einem Gesichtsschleier zu essen. Anfangs hatte es sie gestört, aber dann gewöhnte sie sich daran und beachtete es nicht weiter.

Zu Beginn hatte Nisa Razis Bitte, ein Niqab zu tragen, abgelehnt, obwohl sie schon seit ihrer Jugend Kopftuch trug. Niqab zu tragen war doch noch etwas anderes. Aber laut Razi war es der richtigere, auf den religiösen Geboten basierende Weg.

„Man sollte den religiösen Weg Kaffah gehen, der sich auf alle Lebensbereiche bezieht, Ummi“, hatte Razi mit sanfter, liebevoller Stimme zu ihr gesagt. „Insbesondere weil du so eine schöne Frau bist. Auch wenn Du ein Kopftuch trägst, ist deine Schönheit noch deutlich sichtbar. Und ich bin oft auf Dienstreisen, besuche andere Orte. Da ist es mir nicht angenehm, wenn meine Frau die Blicke anderer Männer auf sich zieht“, ergänzte er sanft und strich ihr dabei übers Haar. Verhielt er sich ihr gegenüber auf diese Weise, schmolzen Nisas Einwände dahin. Razi zwang ihr nie seinen Willen auf, aber er schmeichelte ihr und erläuterte ihr, was er für richtig hielt und wie eine fromme Ehefrau sich verhalten sollte.

Schließlich, wenn auch ein wenig halbherzig, entsprach sie dem Wunsch ihres Ehemanns, einen Niqab zu tragen. Er hatte auch recht behalten, mit Niqab fühlte sie sich tatsächlich sicherer und geschützter vor den Blicken fremder Männer.

Doch Niqab zu tragen machte ihr manchmal das Leben auch schwerer. Ja, wie zum Beispiel beim Essen im öffentlichen Raum. Oder wegen des feucht-heißen Klimas in Jakarta. Oder wenn sie im Einkaufszentrum oder sonst irgendwo in der Öffentlichkeit Freunde traf. Annisa musste lauter rufen, wenn sie Freunde sah, die sie lange nicht getroffen hatte und die sie bestimmt nicht erkennen würden, weil ihr Gesicht verdeckt war.

Manchmal, wenn ihr die Energie dazu fehlte, entschied sie sich auch, an ihr vorbeigehende Freunde von früher nicht anzusprechen. Eigentlich machte es ja keinen Unterschied, sie würden es ohnehin nie erfahren. Trotzdem beschlich sie dann das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, insbesondere wenn es gute Freunde von früher betraf.

An jenem Tag zum Beispiel sah sie Arifin ganz deutlich, einen Mann, der ihr, puh, einmal sehr nahe gestanden hatte. Hm. Nahe, dieses Wort beschreibt ihr Verhältnis nur unzureichend. Treffender wäre zu sagen, dass sich Arifin für einige Zeit darum bemüht hatte, sie näher kennenzulernen und als Verlobte zu gewinnen, bis sie sich dann schließlich für Razi entschieden hatte.

Arifin stand nur wenige Meter von ihr entfernt, in der Obstabteilung des Supermarktes. Annisa spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Der Mann sah immer noch so gut aus wie in ihrer Erinnerung. Er war etwas fülliger geworden, nicht mehr so schlank wie damals als Student.

Sollte sie ihn ansprechen oder nicht? Ansprechen oder nicht. Annisa befand sich plötzlich in einem Dilemma. Sie sah weiterhin zu, wie Arifin mit der Hand Orangen auswählte, ohne zu bemerken, dass ihm ein Augenpaar mit aufgewühlter Brust dabei folgte.

So ist es halt für eine Frau, die Niqab trägt. Annisa erlebt es oft, dass die Entscheidung, ein Freundschaftsband weiterzuführen, in ihrer Hand lag. Sie konnte bestimmen, ob sie sich zu erkennen gab oder nicht. Trüge sie keinen Niqab, hätte sie Arifin auf die kurze Entfernung hin mit großer Wahrscheinlichkeit erkannt und zuerst angesprochen – so dass Annisa nicht ihren Stolz hätte überwinden müssen. Andererseits war der Gedanke, in der jetzigen Situation keinen Niqab zu tragen und einen Mann aus ihrer Vergangenheit zu treffen, auch nicht vorteilhaft.

Nicht, wenn sie keine Nase mehr hatte.

Jetzt oder nie. Annisa sprach sich Mut zu, um Arifin anzusprechen. Sie würde einen Gruß sagen und den Mann ansprechen, der sicher ihre Stimme erkennen würde. Und wenn auch nur für eine kurze Weile, würde Annisa sich mit ihm unterhalten und sehen wie er darauf reagierte, sie zu treffen.

„Brauchst du so lange? Komm, sonst verpassen wir den Anfang des Films…“, näherte sich eine Frau Arifin und strich ihm über den Rücken, in dem Moment, als Annisa auf ihn zugehen wollte.

Die Frau war hübsch, trug kein Kopftuch, wirkte wie eine junge berufstätige Frau, mit wohlgeformten Augenbrauen und leuchtend pinkem Lippenstift. Annisa gelang es gerade noch, einen Blick auf ihre kleine Nase zu werfen, die mit ihrem ovalen Gesicht harmonierte. Annisa wandte sich vom Anblick der beiden ab und schritt in Richtung Kasse. War sie seine Frau? Seine Partnerin? Der Körpersprache nach zu urteilen standen sie sich nahe. Die Frage, die sich mit aller Macht in ihren Kopf drängte, war die, wie es möglich war, dass Arifin sich mit einer Frau befreundet hatte oder gar mit ihr liiert war, die nicht zu ihrer Gruppe gehörte. Früher war Arifin einer der von vielen bewunderten Leiter ihrer Rezitationsgruppe gewesen, der die Ausdauer für lange Rezitationen besaß und voller Begeisterung war, die Religion zu verteidigen. Wie hatte er sich so schnell verändern können? Vielleicht weil er sie nicht hatte heiraten können?

Annisa war sehr aufgewühlt, als sie nach Hause zurückkam. Sie vermisste Razi, aber ihr Mann würde heute Abend noch nicht zurückkehren. Sie würde wieder allein schlafen müssen. Beim Abendgebet weinte sie bitterlich, fühlte sich leer.

Sie schickte ihrem Mann eine SMS: „Abi, ich habe Sehnsucht nach dir. Ich kann es nicht erwarten, bis du nach Hause kommst. Abi, wenn ich nicht mehr hübsch bin, wirst du mich dann immer noch lieben?“

Ihre Nachricht wurde nicht gelesen. Da wo ihr Mann arbeitete, gab es in der Tat oft kein Signal. Anisa holte tief Luft und versuchte zu schlafen. In ihrem Traum schien jemand eine Skizze von ihrem Gesicht zu malen, ihr welliges, ungeordnetes Haar. Ihr Haar, das sie sich auf den Wunsch ihres Mannes hin hatte lang wachsen lassen. Sie schien hinter dem Maler zu stehen und beobachtete, wie er das Gemälde von ihrem Gesicht vervollständigte und bewunderte ihre eigene Schönheit in dem Gemälde. In dem fast vollendeten Gemälde. Doch dann erschrak sie, denn plötzlich trug der Maler weiße Farbe auf ihre Nase auf, zerstörte das Bild von ihrem Gesicht.

„Nicht doch! Warum? Nein!“ Sie spürte, wie ihre Hand an der Schulter des Malers rüttelte. Doch der Maler ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Er steuerte mit seinem Pinsel auf den Mund des Bildes zu. So zerstörte er das eben noch schöne Gesicht immer mehr. Es blieben nur noch zwei schöne Augen übrig. Nun hielt der Maler seinen Pinsel genau über die Augen, als ob er gerade überlegte, abwartete, was ihm sein Herz sagen würde.

„Nein… nein…“, Annisa schüttelte den Maler erneut. In diesem Moment wachte sie auf. Sie hatte kein Zeitgefühl. War es noch Nacht? Begann der Morgen schon zu grauen? Hatte sie den Morgengebetsruf überhört?

Annisa fühlte die Überreste getrockneter Tränen auf ihren Wangen. Sie befühlte ihr Gesicht, zögernd und ängstlich. Sie ertastete den Ort, an dem sie bis vor Kurzem eine Nase gehabt hatte. Sie fühlte nichts. Ihre Finger bewegten sich langsam und wollten ihre Lippen berühren.

Es war als hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie konnte ihre Lippen nicht mehr fühlen. Sie bewegte ihren Mund und konnte ihren eigenen Atem aus dem verbliebenen Loch spüren. Aber sie fühlte ihre Lippen nicht mehr. Annisa fühlte sich völlig erschöpft. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft schleppte sie sich zum Spiegel.

Annisa sah ihr Gesicht, genauer gesagt das, was von ihrem Gesicht noch übrig war. Die Löcher ihrer früheren Nase, das Loch ihres früheren Mundes. Vom Weinen zugeschwollene Augen, durch die Augenlider verdeckt. Nur ihre schmalen Augenbrauen waren noch übrig. Niemand würde so ihr Gesicht erkennen können. Nicht mal sie selbst erkannte sich wieder. Annisa weinte immer heftiger.

Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, wurde Annisa sich dessen bewusst, das draußen noch viele Aufgaben auf sie warteten. Also nahm sie all ihre Kraft zusammen, legte Kopftuch und Niqab an. Ging aus dem Haus um ihren Tätigkeiten nachzugehen. Bevor sie ihr Auto startete, bekam sie eine SMS. „Ich liebe dich, was auch immer passieren mag. Pass gut auf dich auf. Der beste Schmuck ist eine fromme Frau. Und eine fromme Frau folgt den Worten ihres Ehemanns.“

Annisa holte tief Luft. Sie hoffte nur, dass sie immer noch der schönste Schmuck für ihren Mann war, obwohl sie ihr Gesicht schon verloren hatte und vielleicht noch mehr verlieren würde.

Quelle: Feby Indirani: Bukan Perawan Mary. pabrikultur

Übersetzung von Gudrun Ingratubun

© Feby Indirani, Gudrun Ingratubun

Faisal Oddang: Warum beten sie zu einem Baum?

Ich habe mich in einen Baum verwandelt. Die Menschen in meinem Dorf glauben daran, auch wenn sie dies wortreich verteidigen müssen, bis sie Schaum vor dem Mund haben. Seit 1947 glauben sie daran. Der Tamarindenbaum ist inzwischen schon groß und er wird immer älter. Inzwischen braucht man ungefähr fünf erwachsene Männer, um den Baumstamm zu umfassen. Fast jeden Tag drängen sich die Menschen an diesen Baum, sprechen unterschiedlichste Gebete, wobei sie verschiedenfarbige Stoffe um den Baum binden und geloben, sie erst dann wieder zu lösen, wenn sich ihr Gebet erfüllt hat. Also wundert euch nicht, wenn um die Zweige, die Äste, den Stamm – ich glaube ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass um jeden Teil des Baumes ein Stück Stoff gewickelt ist. Es gibt so viele Gebete dort. Um meinen Körper zu schützen, verläuft eine brusthohe moosfarbene Mauer um mich herum. Die Betenden haben sie gebaut.

Aber als der Krieg 1947 erneut ausbrach, gab es den Tamarindenbaum noch nicht. Es spielte sich ungefähr folgendes ab: Wir wurden wie Wasserbüffel zusammengetrieben. Unsere Finger waren mit Stricken aus Padanusbläattern zusammengebunden. Die holländischen Gewehrläufe gaben uns die Richtung an – und mehrmals wurden unsere Schritte noch schneller durch Kolbenhiebe in den Nacken oder ins Schienenbein. Wir wussten, dass nur noch wenig Zeit blieb, bis unsere Leben eins nach dem anderen ausgelöscht werden würden.

***

Der Dezember 1946 hatte gerade begonnen, als mich in der Musholla, dem Ort an dem ich Kindern Koranunterricht gab, eine Nachricht erreichte. Ich gab Rahing ein Zeichen. „Die Kinder sollen es nicht hören“, sagte ich mit gedämpfter Stimme, während ich aufstand und gefolgt von Rahing in den hinteren Teil der Mosholla ging. Ich bat die Kinder, selbständig weiterzulesen. „Ich komme bald zurück“, versprach ich ihnen.

„Sie sind bereits in Makassar”, noch nie hatte Rahings Stimme so angsterfüllt geklungen, „Truppennachschub, viele weitere Truppen”, ergänzte er mit zitternder Stimme.

„Halten wir uns bereit”, sagte ich, bemüht meine Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl mein Herz heftig pochte, in meinem Herzen ein Sturm tobte. Aus Makassar hatte ich gehört, dass sie die Widerstandszentren in Süd-Sulawesi wieder unter ihre Kontrolle bringen wollten. Diese Meldung war schon vor einigen Wochen zu mir gedrungen, vor Rahings Nachricht über die Ankunft der Spezialtruppen, Depot Speciale Troepen—DST, KNIL, die sich bereits auf dem Weg in unser Dorf befanden, nach Bacukikki, dem Herzen des Landkreises Parepare.

Mit Rahing und mit den anderen Andi-Makassau-Kämpfern hatte ich vor der Unabhängigkeit zusammen gekämpft – und nachdem wir bereits alles erreicht hatten, kehrten diese gottverfluchten Kolonisten zurück. Bevor Rahing ging, fragte er noch nach unseren Aktivitäten in der Musholla, wie es den Kindern ginge und er beklagte, wie anstrengend es für ihn wäre, die Bewohner immer wieder in die Verstecke im Wald zu führen und wieder zurück ins Dorf. Ich klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und sagte: „So Gott will, wird alles gut!“

“Ich mache mich auf den Weg. Assalamualaikum, Ustad.“

Ich erwiderte den Abschiedsgruß und beeilte mich, mein Versprechen gegenüber den Kindern zu erfüllen. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Kinder das arabische Alphabet auf buginesisch buchstabieren. Dies erwärmte mein Herz: yase’na lefue nakkeda a, yase’na lefue mallefa nakkeda aaa…. Meine Gedanken gingen zu meinem vor Kurzem getöteten fünfjährigen Sohn – und ich konnte nicht verhindern, dass Tränen über meine Wangen liefen.

***

Rahings Nachricht wurde von einem Kämpfer zum nächsten weitergegeben. So wie das Zischen der Gewehrkugeln vor ein paar Jahren hatte das Eintreffen von Trauernachrichten aus Makassar kein Ende nehmen wollen. Die erste Nachricht kam aus Borong und Batua, beides Orte, von denen wir glaubten, dass die Guerilleros dort sicheren Unterschlupf hatten, und noch andere schwer erklärliche Gerüchte waren im Umlauf. Dann folgten weitere Regionen, Gowa und Takalar. Diese Hiobsbotschaften erreichten uns, jedoch ohne die genaue Anzahl der Toten zu nennen. „Nicht mehr lange und sie werden hier sein“, berichtete eines Abends einer unserer Kämpfer in der Musholla, als es schon keine Koran-Rezitationsübungen mehr gab, nachdem ein Rundschreiben der niederländischen Regierung das Kriegsrecht ausgerufen hatte.

„Kinder, ich werde euch Bescheid sagen, wenn wir wieder beginnen den Koran zu rezitieren. Jetzt habt ihr erst mal frei. Übt zu Hause weiter…”

Ich hatte Angst um sie und meine Sorge wuchs von Tag zu Tag. Wie ein Seemann, der immerzu fürchtet, in einen Wirbelsturm zu geraten. Fast jeden Abend kamen wir zu Lagebesprechungen zusammen, vom Nachtgebet bis zum Morgengebet. Eigentlich handelte es sich nicht vordringlich um Lagebesprechungen sondern um eine Art Nachtwache. Als Leiter der Bacukikki-Krieger, die den Andi-Makassau-Kriegern unterstellt waren, als Zentrum des Widerstands der Bevölkerung von Parepare, stellte ich den Versammlungsort zur Verfügung und leitete die Sitzungen. Das war auch der Grund, warum ich die Kinder gebeten hatte, zuhause den Koran zu rezitieren, abgesehen davon, dass ich sie auch nicht in Gefahr bringen wollte.

„Wir müssen realistisch sein, Ustad.”

Eine lange Stille. Sogar den Windzug meines eigenen Atems konnte ich hören. Niemand fragte, was Rahing mit realistisch gemeint hatte. Doch dann gab Rahing selbst die Erklärung, ohne dass ihn jemand darum gebeten hätte.

„Wir sind zahlenmäßig unterlegen, waffenmäßig unterlegen, insgesamt unterlegen…”

Es war nicht zu übersehen, Rahing konnte seine große Sorge nicht verbergen. Er hatte vor Kurzem geheiratet. Ich selbst hatte die Trauung vollzogen. Ich wusste, dass er nicht nur um sich selbst Angst hatte. Auch um seine Frau – und wahrscheinlich auch um ein ungeborenes Kind. Deswegen schwieg ich, nickte ab und zu, als ob ich schläfrig sei.

Die Schatten des Kampfes vor der Unabhängigkeit, der Schatten meiner Frau Fatimah, meines fünfjährigen Sohnes Akbar und andere Erinnerungen röteten meine Augen. Akbars Schrei um Hilfe, Fatimas Schrei Allahu Akbar, und der zweite Schrei, nachdem eine Granate unser Stelzenhaus an jenem Abend zerstört hatte. Man hatte mich beschuldigt, die Kinder zu Rebellen auszubilden, nur weil ich sie in Koran-Rezitation unterrichtete, aber nachdem ich alles verloren hatte, war ich entschlossen selbst ein Guerilla-Kämpfer zu werden, die Kämpfer anzuführen und die Unabhängigkeit zu verteidigen. Als ich das Gefühl hatte, dass alles vorbei war, hatte ich die Kinder wieder versammelt, sie hatten wieder die Silben „alif-ba-ta“ aufgesagt. Doch wieder mussten wir aufhören.

***

Mitte Januar, einen Monat nach Rahings Meldung, waren sie auf dem Vormarsch zu unserem Dorf. Die Regenzeit hatte gerade begonnen, aber niemand wagte es das Reisfeld zu bestellen. Alle hatten Angst. Aber ein paar Leute nahmen doch ihren Mut zusammen, darunter auch ich.

Die Sonne geht einzig und allein am Horizont unter, und das Leben wird nur durch den Tod beendet. Unzählige Male versicherte ich mich meiner selbst im Spiegel, sah nach, ob mir vielleicht irgendein Körperteil fehlte. Alles war vollständig. So machen sich die Bugis-Leute Mut, bevor sie in den Krieg ziehen. Mein Bart wuchs dicht, stellenweise schon grau. Auch auf meinem Kopf zeigten sich ein paar graue Haare, nicht ungewöhnlich für einen Mann in den Fünfzigern. Meine Augen hatten einen todtraurigen Ausdruck und meine Wangenknochen zeichneten sich immer deutlicher ab. An meiner Schläfe war eine große Verletzung zu sehen, eine Narbe von einem Granatsplitter jener Nacht.

Ya Hayyu, Ya Qayyum – oh Allmächtiger, Allgegenwärtiger, sagte ich in meinem Herzen immer wieder, bis ich mich wirklich bereit fühlte. Obwohl ich immer wieder Verschnaufpausen einlegen musste, wegen meines sich verschlimmernden Hustens mit blutigem Auswurf. Es wird erzählt, dass Muhammad dies auch immer wieder gesagt habe, während seiner schlaflosen Nächte im Badar Krieg, als er auf die Quraisy wartete.

Es wurde heftig an der Tür geklopft, von jemandem, der es eilig zu haben schien. Tatsächlich, als ich öffnete, sah ich in Rahings bleiches Gesicht. Er stammelte, dass der türkische Schlächter schon an der Grenze stände und die Kämpfer versuchten, ihn aufzuhalten. Er fuhr fort: „Ich muss erst meine Frau in Sicherheit bringen. Es tut mir leid, Ustad. Ich spürte augenblicklich Wut in mir hochkochen. Was für ein Egoist! Doch dann stellte sich meine eigene Erfahrung meinem Zorn entgegen. Ich wollte nicht, dass Rahing dieselbe schmerzhafte Erfahrung wie ich machen musste.

„Wenn Du das erledigt hast, schließe dich uns an”, sagte ich fast schreiend, seinen eiligen Schritten folgend. Ich marschierte mit ungefähr 20 Bacukikki-Kämpfern in Richtung Landkreisgrenze, in strömendem Regen, der seit gestern Nachmittag ununterbrochen niederprasselte. Doch wie ein machtloser Tod hatten wir den Einmarsch der holländischen Soldaten eingeschätzt. Die Situation stellte sich völlig anders dar, die Verteidigung an der Grenze war schon überwunden, wir waren sofort unter Druck, sahen uns gezwungen, in den Häusern der Dorfbewohner Zuflucht zu suchen. Ich bereute diese Entscheidung. Die Menschen, die uns Schutz gewährt hatten, wurden nun ebenfalls auf den Dorfplatz getrieben, als sich der Nachmittag dem Ende neigte. Egal ob Mann oder Frau, ob jung oder alt.

In einer langen Reihe knieten wir auf dem Boden, die Hände nach hinten gebunden. Hunderte von Menschen, ohne die Möglichkeit zu entkommen, geschweige denn Widerstand zu leisten. Meine Brust war wie ein Feuer, das alles sehr bewusst wahrnahm. Ein Mann, scheinbar der Anführer der DST, näherte sich der Menschenansammlung. Er sah uns einen nach dem anderen in der Dämmerung eindringlich an. Wen er wohl suchte, fragte ich mich. Sein Blick war kalt. Er war anders als die Anderen, die uns auslachten und verhöhnten. Sein Gesicht war fast ausdruckslos. Vielleicht…vielleicht war er der, den Rahing als türkischen Schlächter  bezeichnet hatte. Der gottverfluchte Westerling? Meine Brust wurde immer heißer. Ich fühlte mich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, gebrochenem Schnabel. Immer noch inspizierte er schweigend unsere Gesichter der Reihe nach. In der Hand trug er eine Browning P-35, mit deren Spitze er ein Kinn anhob, wenn jemand nach unten guckte. Plötzlich löste sich ein Pistolenschuss. Der Schall betäubte meine Ohren und der Gestank von Schießpulver erfüllte die Luft. Ein Frauenkörper fiel vor mir zu Boden.

„Sie ist die Frau eines Rebellen!“, schnappte ich aus seinem gebrochenen, verzerrten Indonesisch auf. Es entstand ein Durcheinander, ein paar Leute versuchten zu fliehen, wenig später fielen ihre Körper zu Boden und ihr Blut vermischte sich mit Regenwasser. Dutzende Seelen wurden augenblicklich ausgelöscht, in weniger als fünf Minuten. Als die DST-Truppen die Situation wieder unter Kontrolle hatten, wurde die Untersuchung fortgesetzt und ihre Gewehre beförderten noch mehr unschuldige Körper in den Tod. Im Laufe der Nacht wurde der Regen immer heftiger. Es blitzte einige Male und ein Sturm kam auf. Einige der DST-Truppen konnten dies nicht mehr aushalten und es entstand wieder Unruhe. In der Dunkelheit schossen sie nun ohne Mitgefühl auf uns. Schreien und Stöhnen wechselten einander ab, der metallene Geruch von Blut mischte sich mit dem von Schießpulver. Am folgenden Tag ließ der Regen nach. Hunderte Leichen lagen verstreut auf dem Dorfplatz, nur mein Körper nicht. Der war verschwunden. Für die Leute von Bacukikki bin ich nun heilig.

***

„So war das Leben Ustad Syamsuris. Wie ein Tamarindenbaum. Seine Früchte werden als Gewürz beim Kochen benutzt, seine Blätter als Gemüse, seine Äste als Feuerholz und sein Stamm kann zu Brettern oder zu einem Hauspfosten werden.“

Unter Tränen erzählte Rahing dies den Menschen, die sich auf dem Platz versammelt hatten, den Tamarindenbaum betrachteten, der einige Wochen nachdem die DST-Truppen Parepare verlassen hatten, dort gewachsen war.

„Am meisten schätze ich an einem Menschen, wenn er seinen Mitmenschen hilft“, fuhr Rahing schluchzend fort. „Die Seele von Ustad Syamsuri hat sich hier auf dem Platz in einen Tamarindenbaum verwandelt, ein Baum der sehr hilfreich und nützlich ist. Sein Körper ist zum Himmel aufgestiegen. Ich bereue es, nicht mit ihm zusammen ein Märtyrer geworden zu sein. Lasst uns für ihn beten. Al-Fātiḥa!“

Seit diesem Tag kamen die Leute häufig hierher und beteten am Tamarindenbaum, bis zum heutigen Tag – Jahrzehnte später. Tatsächlich war es mir gelungen zu entkommen und im Landkreis Wajo Zuflucht zu finden. Dort erlag ich meiner Tuberkulose. Ich starb einige Zeit nachdem General Simon Spoor, der Leiter des niederländischen Angriffs, das Kriegsrecht in Süd-Sulawesi im Februar 1947 aufgehoben hatte.

Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus: Faisal Oddang: Sawerigading Datang dari Laut. DIVA Press, Januar 2019.

© Faisal Oddang, Gudrun Ingratubun