Kapitel I
Oetimu, 1998
Am Abend des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft und eine Stunde bevor die Killer sich Zutritt zu seinem Haus verschafften, wurde Martin Kabiti von Sergeant Ipi mit dem Motorrad abgeholt. Das Motorrad, eine Yahmaha RX King, war frisiert worden und nun verstärkte der Auspuff die Motorengeräusche zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, das die Häuser der armen Leute erzittern ließ, die Hunde zum Bellen brachte und die Fledermäuse in den Wipfeln der Kapokbäume aufscheuchte. In der kühlen Abendluft hatten sich feine Nebelschleier zwischen den Bananenstauden verfangen und sich auf den Oberflächen der Blätter niedergeschlagen, sodass diese im Scheinwerferlicht des Motorrads silbrig schimmerten. Drei Hunde jagten dem Gefährt hinterher, und als einer von ihnen Sergeant Ipi beinahe ins Bein gebissen hätte, ließ dieser sein Motorrad noch stärker aufheulen, als wolle er die dürren Kläffer herausfordern. Es war dies ein glücklicher Abend für ihn. Er hatte bereits alle Vorbereitungen für ein bescheidenes Gastmahl in der Polizeiwache, in der arbeitete und lebte, getroffen. Es würde Rica Anjing, Gulasch aus Hundefleisch, gegrilltes Schwein, Reh und allerlei Getränke geben, und zwar solche mit den offiziellen Zollaufklebern auf der Flasche, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, als auch Sopi Kepala, das Gebräu, das man hier im Dorf bekam.
„Lass uns das Endspiel gemeinsam ansehen. Komm zu mir und freue dich mit mir!“, so lautete die Einladung, die er zwei Tage zuvor an Martin Kabiti gerichtet hatte.
Sergeant Ipis Einladung galt aber nicht nur Martin Kabiti. Er hatte zwei Schuljungen aufgetragen, allen Männern im Dorf, angefangen von den Oberschülern ohne Bartwuchs und Motorradtaxifahrern über die Unruhestifter und Kleinganoven, die nicht selten Schläge von ihm einzustecken hatten, bis hin zu den Dorfältesten und honorigen Herren von seinem Gastmahl zu berichten. Martin Kabiti einzuladen war für ihn jedoch etwas ganz Besonderes und er fühlte sich verpflichtet, diesen Mann persönlich mit seinem Motorrad abzuholen.
Martin Kabiti, der schon vor Längerem den bewaffneten Kampf an den Nagel gehängt hatte und keinen Gedanken an die Möglichkeit eines bevorstehenden Unheils verschwendete, zog sich seine dicke Jacke mit Tarnmotiv über, die er noch aus der Zeit besaß, als er am Berg Matebian Jagd auf Aufständische machte, steckte seine Füße in schwarze Socken und in Carvil-Sandalen, nahm seinen Hausschlüssel und eilte aus dem Haus. Seine Frau ließ ihn ohne die leiseste Vorahnung ziehen, und seine Kinder schliefen bereits tief und fest, in den Schlaf gesungen vom Chor der Zikaden und der nachtaktiven Tiere der Wildnis. Martin Kabiti nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Auf dem gesamten Weg zur Polizeiwache überholten sie junge Männer in Jacken und alte Männer in Sarongs, die man hier bete nannte, sie alle eilten zu Fuß in dieselbe Richtung. Ein anderes Motorrad, besetzt mit zwei Soldaten von der Grenzwache, heulte hinter ihnen auf. Der Fahrer beschleunigte, so wie er das Dröhnen der RX King von Sergeant Ipi erkannte. Martin Kabiti hatte die beiden Soldaten eingeladen. Er hatte ihnen schon mehrere Male geraten, sich der zivilen Bevölkerung anzunähern. Und dieser Abend bot eine besonders günstige Gelegenheit dafür, denn so würden sie sich unter die Dorfbewohner mischen und ihre Begeisterung für dieselbe Sache mit ihnen teilen können. Die beiden Motorräder fuhren das letzte Stück des Weges nebeneinander her, und die Männer aus dem Dorf, an denen sie vorbeifuhren, hoben respektvoll grüßend die Hand.
Die Leute von Oetimu hatte das Fußballfieber gepackt. Allabendlich versammelten sie sich vor dem Fernseher und feuerten die Männer an, die auf dem grünen Rasen einem Ball hinterherjagten. Sie schnitten sich die aktuellen Spielpläne aus der Zeitung aus und klebten sie an die Wand im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer oder sogar in der Hütte auf dem Feld; sie machten mit dem Bleistift ein Zeichen hinter dem Land, welches bereits ein Spiel verloren hatte, und ein anderes Zeichen hinter dem Land, welches ihrer Meinung nach noch ein Spiel verlieren würde. Sie hatten einen Favoriten, von dessen Sieg sie fest überzeugt waren, nämlich Brasilien, denn abgesehen davon, dass die brasilianischen Fußballer spielten als würden sie tanzen, besaß die brasilianische Elf einen unbezwingbaren Stürmer: Ronaldo Luis Nazário de Lima. Die Leute vergötterten Ronaldo, sie nannten ihre Hunde Ronaldo und auch andere Tiere in Haus und Hof, und wenn Brasilien spielte, blieben in den Häusern nur die Frauen und Kinder zurück, während die Männer, jung und alt, sich vor dem Fernseher versammelten und ihrem Idol zujubelten.
Im Dorf gab es bereits drei Fernsehgeräte. Eines in der Polizeiwache, eines im Haus von Mas Zainal und eines im Haus von Baba Ong, dem Besitzer des Ladens Subur. Baba Ong war ungemein geizig und würde die Leute aus dem Dorf niemals in sein Haus lassen, außer sie wollten etwas bei ihm kauften. Er besaß lange, blickdichte Vorhänge, die den Fernseher im Wohnzimmer vor den Augen der Kinder, die gerne durch seine Fenster linsten, abschirmte. Mas Zainal hatte derart vorstehende Zähne, dass er jedem Besucher seines Hauses den Eindruck vermittelte, er würde ihn freundlich anlächeln. Allerdings war Mas Zainal Alteisensammler, und in seinem Haus fernzusehen bedeutete, sich zwischen verrosteten und scharfkantigen Eisenwaren sowie gebrauchten Akkus und Batterien zu zwängen. Zudem herrschten starke Gerüche vor: Der Duft nach Essen drang aus der Küche und machte hungrig, aber gleichzeitig wurde einem von dem Gestank nach Öl speiübel. Tatsächlich wäre es allen am liebsten gewesen in der Polizeiwache fernzusehen – auf der geräumigen Fläche des Fußbodens würde man sich mit ausgestreckten Beinen fläzen können, zur Abwechslung könnte man sich gegen die glatt verputzte Wand lehnen, und, falls keine wichtigen Leute anwesend waren, könnte man sich auf das weich gepolsterte Sofa setzen – doch der Fernseher in der Polizeiwache wurde üblicherweise nur für wichtige Leute wie Martin Kabiti, die Dorfältesten, Lehrer oder andere respektable Persönlichkeiten eingeschaltet. So hatten die gewöhnlichen Leute, wenn sie fernsehen wollten, keine andere Wahl als sich im Haus von Mas Zainal umgeben von allerlei Eisenschrott und unangenehmen Gerüchen zu versammeln.
Den Männern hatte Sergeant Ipi daher mit seiner Einladung, an diesem Abend bei ihm in der Polizeiwache fernzusehen, eine riesengroße Freude bereitet. Umso größer war ihre Freude, als sie von der üppigen Auswahl an Fleischspeisen und Getränken erfuhren, die der junge Polizist bereits besorgt hatte. Die Männer strömten also in Scharen herbei, und auch Mas Zainal schaltete sein Fernsehgerät aus und machte sich auf zur Polizeiwache, um dort fernzusehen.
Als die beiden Motorräder nebeneinander in den Hof der Polizeiwache einfuhren, hatte sich dort bereits eine erwartungsvolle Menschenmenge versammelt, die Männer rauchten oder kauten Betel. Die Polizeiwache war zu klein als dass man sie Polizeirevier hätte nennen können, aber auch zu groß als dass man sie Polizeiposten hätte nennen können. Das Gebäude war aus Stein gebaut und verfügte über zwei Räume, einen Raum im hinteren Bereich, in welchem Sergeant Ipi schlief, und einen deutlich größeren Raum, den er zum Arbeiten nutzte. In letzterem schrieb er seine Berichte, sah fern, empfing Gäste und hier aß er auch.
aus: Felix K. Nesi: Orang-Orang Oetimu, CV Marjin Kiri, Tangerang 2019, Übersetzung von Sabine Müller
© Sabine Müller