18. September 2003
Mein ganzes Leben ist eine Falle.
Mein Körper war meine erste Falle. Die nächste meine Eltern, dann alle anderen Menschen, die ich kannte. Weiterhin alle Dinge, mit denen ich in Berührung kam, alles was ich je getan habe. All dies sind Fallen, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen. All dies sperrt mich ein, fesselt mich –, hohe Mauern, in denen ich in meinen 30 Lebensjahren gefangen bin.
Jetzt bin ich hier. In einer Falle, die mit bloßem Auge erkennbar ist.
Von tatsächlichen Mauern umschlossen. Eingesperrt, hinter Gittern, im Gefängnis. Ich weiß nicht wie lange.
Vielleicht werde ich genug Willenskraft haben, meinen Weg weiterzugehen, warten bis der Tag der Freilassung kommt – obwohl es keine wirkliche Befreiung sein würde. Denn wenn dieser Tag käme, würde ich nur wieder in eine andere Falle geraten.
Oder aber ich beende alles, renne weg, so weit es geht. Renne davon, um meinen Körper zu verlassen, die mich begrenzenden Mauern zurückzulassen, mein Leben hinter mir zu lassen.
Ich weiß es noch nicht. Wenn ich diese Geschichte morgen fortsetze, bedeutet es, dass ich noch da bin. Dass ich gewählt habe, in meinem eigenen Leben weiterhin in der Falle zu sitzen, gewählt habe, eingesperrt und gefangen zu sein. Gewählt habe, nicht in Freiheit zu sein, weil ich mich offen gestanden zu sehr vor dieser Freiheit fürchte, da ich schon gewohnt bin, gefangen zu sein, es mir zur Gewohnheit geworden ist, über meine Fesseln zu klagen.
Aber wenn diese Geschichte morgen nicht weitergeht, könnt ihr mit mir zusammen glücklich sein. Ich werde dann frei sein. Ich werde keine Angst mehr haben. Ich werde mich dann nicht mehr fügen; nicht mehr kapitulieren, weil ich Angst habe. Ist das nicht die wahre Freiheit?
Sasana
Die Falle des Körpers
Die erste Stimme, die ich je kennengelernt habe, war die Stimme des Klaviers. Nicht die Stimme meiner Mutter, auch nicht die meines Vaters. Das erste Mal, als ich diese Stimme hörte, befand ich mich noch in der Gebärmutter meiner Mutter. Ich hörte sie nicht nur, ich kannte die Töne und konnte sie unterscheiden. Ich konnte kräftige, stampfende Töne fühlen, die mich immer aufweckten und in Bewegung versetzten. Bei sanften Tönen hingegen wiegte ich mich hin und her, schlief fest ein, konnte ruhig schlafen.
Keine andere Stimme hörte ich so. Ich hatte meine Mutter nie flüstern, meinen Vater nie schreien hören. Die Stimmen meiner Eltern lernte ich erst richtig kennen, als ich zur Welt kam. Doch zu dieser Zeit hörte ich dann zu viele Stimmen. Laut, sich überlagernd, flüchtig. Bis ich eigentlich nichts mehr wirklich hören konnte. Nicht die Stimme meiner Mutter, nicht die Stimme meines Vaters, auch nicht den Klang des Klaviers.
Zu dieser Zeit bereute ich schon, geboren worden zu sein. Die Welt war nicht für mich. Die Welt brauchte mich nicht. Nichts bereitete mir Freude. Ich schien am falschen Ort zu sein. Immer machte ich alles falsch.
So wie der Klang des Klaviers das erste war, was ich kennenlernte, so war das Klavier auch die erste Sache, die meine Eltern mir zeigten, nachdem ich geboren war. Es machte ihnen eine große Freude, mich vor das Klavier zu setzen und meine Hände zu führen, um die einzelnen Tasten herunterzudrücken. Ich mochte das nicht, ganz im Gegensatz zu meinen Eltern. Sie lachten immer und sahen glücklich aus, wenn ich eine Taste anschlug und zum Klingen brachte. Ich tat dies jeden Tag, wenn nicht sogar den ganzen Tag lang. Es gibt nichts anderes aus meiner frühen Kindheit, an das ich mich erinnere, außer dem Klavier.
Als ich schon kein Baby mehr war, meine Kindheit begann, ließen meine Eltern einen Klavierlehrer kommen, um mich zu unterrichten. Dieser Lehrer kam zweimal in der Woche nachmittags. An den Tagen, an denen dieser Klavierlehrer kam, wurde ich immer nachmittags früher als sonst gebadet. Meine Kinderfrau brachte mich dann ins Wohnzimmer, wo das Klavier meiner Familie stand. Jeweils eine Stunde lang unterrichtete mich dieser Lehrer. Ich hatte keinen Spaß daran. Der Klang des Klaviers war in meinen Ohren nicht mehr schön. Er war zu einem störenden Geräusch geworden, das mir das Gefühl gab, getrieben zu werden, oder in einem Raum gefangen zu sein. Was konnte ich tun? Es gab nichts, was ich hätte tun können. Ich war ein kleiner Junge, hatte keine Macht, konnte nur tun, was meine Eltern von mir verlangten. So spielte ich weiter Klavier.
Sieben Lehrer haben mich unterrichtet. Jeder Lehrer hörte aus einem anderen Grund auf, mir Unterricht zu geben. Einer wollte heiraten, eine Lehrerin wurde schwanger und bekam ein Kind, ein weiterer Lehrer zog in eine andere Stadt, der nächste fand eine andere Anstellung und einem wurde es sogar zu langweilig. Langeweile. Es imponierte mir, dass jemand aufhörte etwas zu tun, weil er es langweilig fand. Leider war mir das nicht vergönnt. Mir war langweilig, aber ich hörte nicht auf, Klavier zu spielen. Ich hatte keinen Spaß daran, hatte aber keine andere Wahl.
Als ich in die Grundschule kam, beherrschte ich bereits die Werke der klassischen Komponisten: Beethoven, Chopin, Mozart, Bach, Brahms … Welchen großen Komponisten ihr mir auch genannt hättet, ich hätte ihn spielen können. Ich konnte all diese Stücke spielen. Schön sogar. Wenn ich spielte, benutzte ich allerdings nur meinen Verstand – nicht mein Gefühl. Klavier spielen hieß, ein Gerät bedienen, dachte ich zu jener Zeit. Wenn es nur darum ging, den Anweisungen eines Lehrers zu folgen, gelang mir dies mit Leichtigkeit. Obwohl es mir eigentlich keinen Spaß machte und ich mich dabei quälte, als sei in mir drin etwas falsch und mit allen Dingen um mich herum auch. Wie gesagt, ich fühlte mich immer fehl am Platz.
Auch Beifall und lobende Worte konnten mir nicht das Gefühl geben, am rechten Platz zu sein. In ziemlich jungen Jahren schon, ich war gerade in die vierte Klasse gekommen, hatte ich also bereits dutzende Male vor vielen Leuten Klavier gespielt. Von der Schule bis zum Einkaufszentrum. Manchmal nur zur Übung, manchmal im Rahmen eines Wettbewerbs. Meine Pokale standen alle in einer Reihe aufgereiht. Meine Fotos waren gerahmt und aufgehängt. In der Schule zählte ich immer zu den zehn Kindern mit den besten Noten. Ich war der Stolz meiner Eltern und ein Vorbild für Andere.
Als ich eben in dieser vierten Klasse war, wurde mein Geschwisterchen geboren. Ein hübsches Mädchen mit vollen, zarten Wangen. Ihr Körper war winzig, ihre Augen groß. Ich bewunderte sie. Ich liebte sie mehr als alles andere. Ich war sehr gern in ihrer Nähe. Es machte mir großen Spaß, sie anzuschauen, ihr Verhalten zu beobachten, ihr Lächeln zu sehen. Es fiel mir jedes Mal auf, wenn man ihr ein neues Kleidungsstück anzog, rosa Kleider, süße Schühchen. Jetzt gab es etwas anderes, abgesehen vom Klavier und dessen Klang, an das ich mich erinnerte: Melati. Ein wunderschöner Name, nicht wahr?
Melati. Wie gern ich diesen Namen wieder und wieder aussprach. Er war so anders als mein eigener Name: Sasana. Überhaupt nicht schön. Zu grimmig, zu hart. Mein Name erinnerte mich immer an Kampf und Blut. Wie ein Boxring. Aber meine Mutter bestritt immer, dass dies die Bedeutung meines Namens sei. Für sie bedeutete Sasana Männlichkeit, Mut, Stärke.
Melati wurde so erzogen wie ich. Doch ihr Leben schien ihr mehr Spaß zu machen. Immer lächelte und lachte sie. Von Tag zu Tag sah man mehr Schönheit in ihrem Gesicht. Wie ich wurde auch sie zuerst mit dem Klavier vertraut gemacht.
Dem Klavier kam in unserem Elternhaus in der Tat eine besondere Rolle zu. Für meine Eltern war das Klavierspiel eine Tradition, der die höchste Achtung gebührte. Ich selbst frage mich, woher ihre Ehrerbietung kam. Meine Eltern sind keine Musiker. Sie können zwar Klavier spielen, sind bei den Anfängen geblieben, weit entfernt von dem, was ich bereits in der vierten Klasse konnte. Auch ihre Berufe haben nichts mit Musik zu tun. Mein Vater ist Jurist und meine Mutter Chirurgin. Sie haben sich während des Studiums kennengelernt. Ihre gemeinsame Vorliebe für klassische Musik, die Freude an der Diskussion ernsthafter Themen von Politik bis Philosophie vereinte sie. Nachdem sie geheiratet und ein Haus gekauft hatten, war das Klavier, das wir bis heute besitzen, ihre erste Anschaffung. Etwas Besonderes für ein junges Paar, das gerade von niemanden mehr abhängig war. Sie bezahlten das Klavier in zwanzig Raten ab. Sie waren überzeugt, dass es ihnen sehr nützlich sein würde. Nicht nur für ihrer beider Glück, sondern auch für die Zukunft ihrer Kinder. Sie waren überzeugt, dass die auf diesem Klavier gespielte Musik ihren Kindern Intelligenz geben würde. Diese Überzeugung hatten sie aus Büchern gewonnen, die sie gelesen hatten. Melati und ich waren die Verwirklichung dieser Überzeugung. Und ich hatte den Beweis schon erbracht. Ein guter Junge, folgsam, liebevoll und klug. Zudem spielte ich sehr gut Klavier, wovon beide besessen waren. Sie liebten mich und waren stolz auf mich. Der erstgeborene, der einzige Junge. Bis ich mich zu verändern begann.
Ich weiß nicht mehr genau, wie es anfing. Es waren Schulferien. Ich hatte gerade sechs Jahre Grundschule hinter mir und war bereit für die Mittelschule. An jenem Abend war ich in einem Dorf hinter unserem Wohnkomplex. Ich stand zwischen Dutzenden Männern und Frauen und sah mir einen Auftritt an. Eine Frau in einem schillernden Kleid stand auf der Bühne. Sie hatte soeben ein Lied zu Ende gesungen. Sie sah die Zuschauer eindringlich und kokett an, was die Zuschauer sogleich mit Jubel und Beifall bedachten. Einige Leute riefen: „Zugabe! … Zugabe!“. Die Rufe wurden lauter. Das Publikum verlor fast die Geduld. Die Sängerin lächelte glücklich, spürte wie begehrt sie war. Die Trommel wurde geschlagen, die Gitarre gezupft, die Musik setzte ein. Musik, die ich nie zuvor gehört hatte. Ganz anders als die Kompositionen, die ich spielte, anders auch als die Stücke, die ich sonst hörte. Dann sang die Sängerin ein Lied, das mir völlig unbekannt, aber nicht fremd war. Es ging mir sofort ins Ohr, sein Text prägte sich mir mühelos ein.
So trällerte ich inmitten der singenden Menge der Stimme der Sängerin folgend dieses Lied mit:
Einmal habe ich im Riapark Musik erlebt
Der malaiische Rhythmus, Duhai, sehr angenehm
Der malaiische Rhythmus, Duhai, sehr angenehm
Die Flöte war aus Bambus, die Trommel aus Rindsleder
Dangdut, Stimme der Trommel, animiert mich zum Mitsingen
Dangdut, Stimme der Trommel, animiert mich zum Mitsingen
Terajana … terajana
Dies ist ein Lied, ein Lied aus Indien
Ei, so süß seine Melodie, ei, so süß seine Melodie
Süß die Stimme des Sängers
Passend zu seinem schönen Outfit.
In meiner Begeisterung bin ich schier bewusstlos
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt
Die Frau sang und bewegte sich dazu im Takt. Solche Körperbewegungen hatte ich noch nie gesehen. Die Stimme der Gitarre und die Trommel wurden eins – schön und voller Leidenschaft. Auch die Leute um mich herum bewegten sich nun im Takt zur Musik. Die Köpfe neigten sich nach vorn, zur Seite, guckten herausfordernd, während der Mund weiterhin mitsang.
Mein Körper wiegte sich, zunächst sanft. Ich war mir nicht bewusst, dass ich tanzte. Am Anfang war es nur eine leichte Bewegung, dann bewegte sich mein Arm, mein Körper neigte sich nach links und nach rechts. Ich ahmte die Tanzbewegungen meiner Nachbarn nach und rief auch mit ihnen: „Uoooo!”, „Ahoooo!“, oder „Ah… ah… ah…!” und tanzte, war wie in Trance. Trieb dahin. Genau wie es in diesem Lied beschrieben wurde:
In meiner Begeisterung bin ich schier bewusstlos
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt
Die Hüfte schwingt zur Stimme, die mich zum Singen bringt
Ich schloss die Augen ein ums andere Mal und genoss diese Momente sehr. Plötzlich zog mich jemand am Arm, sehr grob. Ich erschrak und erkannte meine Mutter. Sie hatte mich am Arm gepackt. Wortlos zerrte sie mich hinter sich her durch die Zuschauermenge und stieß mich ins Auto. Sie war mit dem Auto gekommen, obwohl sie den kurzen Weg hierher auch hätte zu Fuß gehen können. Auch ich war ja zu Fuß hergekommen, allein, zum ersten Mal. Viele Dinge erlebte ich an jenem Abend zum ersten Mal. Jener Abend war der schönste meiner zwölf Lebensjahre gewesen. Ich würde ihn nie vergessen und nie damit abschließen. Obwohl ich seine Folgen ertragen musste.
Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus: Okky Madasari: Gebunden. Stimmen der Trommel. sujet Verlag, 2. Auflage 2017, (ISBN: 978–3-944201–83-2)
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