Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens

»Wer da hat, dem wird gegeben«, dieses Wort aus dem Buche der Weisheit darf jeder Schriftsteller getrost in dem Sinne bekräftigen: »Wer viel erzählt hat, dem wird erzählt.«
Nichts Irrtümlicheres als die allzu umgängliche Vorstellung, in dem Dichter arbeite
ununterbrochen die Phantasie, er erfinde aus einem unerschöpflichen Vorrat pausenlos
Begebnisse und Geschichten. In Wahrheit braucht er nur, statt zu erfinden, sich von
Gestalten und Geschehnissen finden zu lassen, die ihn, sofern er sich die gesteigerte
Fähigkeit des Schauens und Lauschens bewahrt hat, unausgesetzt als ihren
Wiedererzähler suchen; wer oftmals Schicksale zu deuten versuchte, dem berichten viele ihr Schicksal.

Auch dieses Begebnis ist mir beinahe zur Gänze in der hier wiedergegebenen Form
anvertraut worden und zwar auf völlig unvermutete Art. Das letzte Mal in Wien suchte
ich abends, von allerhand Besorgungen abgemüdet, ein vorstädtisches Restaurant auf,
von dem ich vermutete, es sei längst aus der Mode geraten und wenig frequentiert. Doch kaum eingetreten, wurde ich meines Irrtums ärgerlich gewahr. Gleich von dem ersten Tisch stand mit allen Zeichen ehrlicher, von mir freilich nicht ebenso stürmisch
erwiderter Freude ein Bekannter auf und lud mich ein, bei ihm Platz zu nehmen. Es
wäre unwahrhaftig, zu behaupten, daß jener beflissene Herr an sich ein unebener oder
unangenehmer Mensch gewesen wäre; er gehörte nur zu jener Sorte zwanghaft
geselliger Naturen, die in ebenso emsiger Weise, wie Kinder Briefmarken,
Bekanntschaften sammeln und deshalb auf jedes Exemplar ihrer Kollektion in
besonderer Weise stolz sind. Für diesen gutmütigen Sonderling – im Nebenberuf ein
vielwissender und tüchtiger Archivar – beschränkte sich der ganze Lebenssinn auf die
bescheidene Genugtuung, bei jedem Namen, der ab und zu in einer Zeitung zu lesen
war, mit eitler Selbstverständlichkeit hinzufügen zu können: »Ein guter Freund von
mir« oder »Ach, den habe ich erst gestern getroffen« oder »Mein Freund A hat mir
gesagt und mein Freund B hat gemeint«, und so unentwegt das ganze Alphabet entlang.
Verläßlich klatschte er bei den Premieren seiner Freunde, telephonierte jede
Schauspielerin am nächsten Morgen glückwünschend an, er vergaß keinen Geburtstag,
verschwieg unerfreuliche Zeitungsnotizen und schickte einem die lobenden aus
herzlicher Anteilnahme zu. Kein unebener Mensch also, weil ehrlich beflissen und schon
beglückt, wenn man ihn einmal um eine kleine Gefälligkeit ersuchte oder gar das
Raritätenkabinett seiner Bekanntschaften um ein neues Objekt vermehrte.

Aber es tut nicht not, Freund »Adabei« – unter diesem heiteren Spottwort faßt man in
Wien jene Spielart gutmütiger Parasiten innerhalb der buntscheckigen Gruppe der
Snobs für gewöhnlich zusammen – näher zu beschreiben, denn jeder kennt sie und
weiß, daß man sich ihrer rührenden Unschädlichkeit ohne Roheit nicht erwehren kann.
So setzte ich mich resigniert zu ihm, und eine Viertelstunde lief schwatzhaft dahin, als
ein Herr in das Lokal eintrat, hochgewachsen und auffällig durch sein frischfarbiges,
jugendliches Gesicht mit einem pikanten Grau an den Schläfen; eine gewisse
Aufrechtheit im Gang verriet ihn sofort als ehemaligen Militär. Eifrig zuckte mein
Nachbar mit der für ihn typischen Beflissenheit grüßend auf, welchen Impetus jedoch
jener Herr eher gleichgültig als höflich erwiderte, und noch hatte der neue Gast nicht
recht bei dem eilig zudrängenden Kellner bestellt, als mein Freund Adabei bereits an
mich heranrückte und mir leise zuflüsterte: »Wissen Sie, wer das ist?« Da ich seinen
Sammelstolz, jedes halbwegs interessante Exemplar seiner Kollektion rühmend zur
Schau zu stellen, längst kannte und überlange Explikationen fürchtete, äußerte ich bloß
ein recht uninteressiertes »Nein« und zerlegte weiter meine Sachertorte. Diese meine
Indolenz aber machte den Namenskuppler nur noch aufgeregter, und die Hand
vorsichtig vorhaltend, hauchte er mir leise zu: »Das ist doch der Hofmiller von der
Generalintendanz – Sie wissen doch – der im Krieg den Maria Theresienorden
bekommen hat.« Weil nun dieses Faktum mich nicht in der erhofften Weise zu
erschüttern schien, begann er mit der Begeisterung eines patriotischen Lesebuchs
auszupacken, was dieser Rittmeister Hofmiller im Krieg Großartiges geleistet hätte,
zuerst bei der Kavallerie, dann bei jenem Erkundungsflug über die Piave, wo er allein
drei Flugzeuge abgeschossen hätte, schließlich bei der Maschinengewehrkompagnie, wo er drei Tage einen Frontabschnitt besetzt und gehalten hätte – all das mit vielen
Einzelheiten (die ich hier überschlage) und immer dazwischen sein maßloses Erstaunen
bekundend, daß ich von diesem Prachtmenschen nie gehört hatte, den doch Kaiser Karl
in Person mit der seltensten Dekoration der österreichischen Armee ausgezeichnet
habe.

Unwillkürlich ließ ich mich verleiten, zum andern Tisch hinüberzuschauen, um einmal
einen historisch abgestempelten Helden aus Zweimeterdistanz zu sehen. Aber da stieß
ich auf einen harten, verärgerten Blick, der etwa sagen wollte: Hat der Kerl dir etwas
von mir vorgeflunkert? An mir gibt’s nichts anzugaffen! Gleichzeitig rückte jener Herr
mit einer unverkennbar unfreundlichen Bewegung den Sessel zur Seite und schob uns
energisch den Rücken zu. Etwas beschämt nahm ich meinen Blick zurück und vermied
von nun an, auch nur die Decke jenes Tischs neugierig anzustreifen. Bald darauf
verabschiedete ich mich von meinem braven Schwätzer, beim Hinausgehen jedoch
schon bemerkend, daß er sich sofort zu seinem Helden hinübertransferierte,
wahrscheinlich um einen ebenso eifrigen Bericht über mich zu erstatten wie zu mir über jenen.

Das war alles. Ein Blick hin und her, und ich hätte gewiß diese flüchtige Begegnung
vergessen, doch der Zufall wollte, daß ich bereits am nächsten Tage, in einer kleinen
Gesellschaft mich neuerdings diesem ablehnenden Herrn gegenübersah, der übrigens
im abendlichen Smoking noch auffallender und eleganter wirkte als gestern in dem
mehr sportlichen Homespun. Wir hatten beide Mühe, ein kleines Lächeln zu verbergen,
jenes ominöse Lächeln zwischen zwei Menschen, die inmitten einer größeren Gruppe
ein wohlgehütetes Geheimnis gemeinsam haben. Er erkannte mich genau wie ich ihn,
und wahrscheinlich erregten oder amüsierten wir uns auch in gleicher Weise über den
erfolglosen Kuppler von gestern. Zunächst vermieden wir, miteinander zu sprechen, was sich schon deswegen als aussichtslos erwiesen hätte, weil rings um uns eine aufgeregte Diskussion im Gange war.

Der Gegenstand jener Diskussion ist im voraus verraten, wenn ich erwähne, daß sie im
Jahre 1938 stattfand. Spätere Chronisten unserer Zeit werden einmal feststellen, daß im
Jahre 1938 fast jedes Gespräch in jedem Lande unseres verstörten Europa von den
Mutmaßungen über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines neuen
Weltkrieges beherrscht war. Unvermeidlich faszinierte das Thema jedes Zusammensein,
und man hatte manchmal das Gefühl, es seien gar nicht die Menschen, die in
Vermutungen und Hoffnungen ihre Angst abreagierten, sondern gleichsam die
Atmosphäre selbst, die erregte und mit geheimen Spannungen beladene Zeitluft, die
sich ausschwingen wollte im Wort.

Originaltext aus: https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/zweig.html