Die Ratssitzung war sogleich in eine ausgelassene Stimmung geraten, als Kyai Fikris Anliegen vorgebracht worden war, nämlich dass ein Schwein namens Baby zum Islam konvertieren wolle. Aus mehreren Ecken des Raumes hörte man „Astaghfirullah“-Rufe, bevor eine Vielzahl von Händen gleichzeitig emporschnellte, um die Gelegenheit zu erhalten, sich dazu zu äußern. Andere Besucher der Sitzung hielten das nicht für nötig und redeten gleich drauflos. Der Leiter der Sitzung war mit diesem Ansturm überfordert und ordnete schließlich eine Pause von 30 Minuten an.
Dann beschloss der Rat, Kyai Fikri als den Urheber dieser Kontroverse zur nächsten Sitzung zu laden.
Doch Kyai Fikri entgegenzutreten war nicht so leicht, weil er ein bekannter, von vielen verehrter Kyai war. Er war nicht groß, schlank, schon fast mager. Aber sein Blick war scharf und klar. Er besaß eine starke Aura, die ihm die Bewunderung der Menschen eingetragen hatte. Sein Alter war von seinem Erscheinungsbild her schwer zu schätzen. Er wirkte reif, mit seinem kurzen, gepflegten Bart, gleichzeitig aber relativ jung durch sein agiles Auftreten.
Sprach er mit seiner tiefen Stimme einen Gruß, herrschte im ganzen Raum augenblicklich Stille.
„Baby hat ihren ernsthaften Willen gezeigt, sich zum Islam zu bekennen und ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass eine gute Anleitung wen auch immer verändern und berühren kann. Und wenn wir überzeugt sind, dass der Islam für Gerechtigkeit steht, sollten wir, denke ich, Baby eine Chance geben.”
„Entschuldigung Kyai”, sagte ein Besucher der Sitzung, „bedeutet das, dass Baby dann ihr verabscheuungswürdiges Verhalten ändern würde?”
„Verabscheuungswürdig aus unserer Perspektive, weil sie anders ist als wir. Baby wird weiterhin ein Schwein bleiben, gemäß sunnatullah, dem göttlichen Naturgesetz.”
Flüstern erfüllte den Raum. Ein junger Teilnehmer hob den Arm. Kyai, ich würde gern wissen, warum Sie sich so für Baby einsetzen, aber vorher wüsste ich auch noch gern, wie Sie überhaupt mit Baby in Kontakt gekommen sind. Ist es nicht ein verbotenes Tier?”
„Ich bin Tierzüchter, und unter anderem halte ich auch Schweine”, entgegnete Kyai Fikri ruhig. „Es ist verboten Schwein zu essen, aber nicht es zu züchten, nicht wahr?” Ein Gemurmel erhob sich. Der Kyai ist ein Ketzer, flüsterten sie.
„Entschuldigung Kyai, aber wozu?”
„Ich gebe sehr armen Leuten in einem Dorf zu Essen. Und andere Tiere sind zu teuer. Ein Schwein bekommt, wenn es einmal trächtig ist, bis zu 20 Ferkel. Es gehört zu den Tieren, die den meisten Nachwuchs hervorbringen. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, Schweine zu halten.”
„Wie können Sie es ertragen, den Armen Schweinefleisch als Essen zu geben?”
„Die Menschen dort sind wirklich sehr arm und sie sind keine Muslime. Es wäre ein Luxus mit ihnen über Religion zu sprechen, ihre Religion ist vielleicht nur Essen und sauberes Wasser”. Der Blick des Kyais streifte die Versammlungsteilnehmer, die ihre Blicke unverwandt auf ihn gerichtet hatten.
„Ich übernachte oft in dem Dorf, verbringe Zeit mit den Menschen, schlafe in einer kleinen Musholla, nicht so weit vom Schweinestall entfernt. Ich bete und rezitiere den Koran dort wie überall, wo ich mich aufhalte. Als ich dann einmal hinaus ging, stand da ein weibliches Schwein, das mich immerzu ansah, als ob es auf mich gewartet hätte. Als ob es immer etwas sagen wollte. Dieses Schwein ist schon relativ alt, es ist 15 Jahre alt und kann keine Ferkel mehr bekommen. Da es sehr oft geschah, dass es auf mich zu warten schien, wenn ich aus der Musholla trat, als ob es mir etwas sagen wollte, habe ich ihm den Namen Baby gegeben und es schien zu verstehen, dass das der Name ist, den ich ihm gegeben habe.“
Er schwieg einen Moment und holte Luft. „Mit Allahs Erlaubnis konnte es seinen Wunsch äußern und ich habe seine Absicht verstanden. Es sagte, dass es gerne Muslima werden würde, für die verbleibenden Tage seines Lebens. Es weiß, dass es bald an der Reihe ist, geschlachtet zu werden und es wünscht, dass seine Bitte erfüllt wird”
Plötzlich geriet die Atmosphäre im Raum wieder in Aufruhr, weil so viele Menschen durcheinander sprachen, miteinander debattierten, sich empörten.
„Wie kann ein verehrter Kyai mit Baby seine Zeit verbringen?”
„Das werden wir nicht zulassen! Alles was mit Schweinen zu tun hat, ist haram. Die ganze Existenz des Schweins. Punkt.”
„Ist es unser Recht, jemanden davon abzuhalten, sich zum Islam zu bekennen? Ist der Islam nicht gütig gegenüber der Natur?”
„Hatte Baby denn bisher eine Religion? Warum möchte sie gerade jetzt Muslima werden?”
„Wenn ihr Baby verbietet dem Islam beizutreten, verhaltet ihr euch nicht gerecht. Und so ein Verhalten hassen Allah und auch der Prophet.”
„Aber wollen wir alle die gleiche Religion wie Baby haben? Das würde den Grad unserer Menschlichkeit herabsetzen.”
„Unser Körper und Baby ähneln sich sehr. Unsere DNA entscheidet sich nur zu 3 % von der der Schweine. Genau genommen sind wir ihnen näher als wir uns vorstellen.”
„Und soll sie dann dem Islam beitreten? Und Babys Merkwürdigkeiten kennen wir doch schon. Ihren schmutzigen und faulen Charakter. Weiterhin ihre unklare Stellung unter den Tieren, man kann das Schwein als wildes Tier bezeichnen, weil es Reißzähne hat und Fleisch frisst, andrerseits ähnelt es auch einem zahmen Tier, weil es Pflanzen und Blätter frisst ”
„Habt ihr das gehört? Es soll uns immer ähnlicher sein!”
Von überall hörte man erneut „Astaghfirullah“-Rufe. Niemand verstand mehr, was der andere sagte. Jeder war nur mit seiner eigenen Meinung beschäftigt. Der Sitzungsleiter setzte eine zweistündige Pause
an, um der Situation Herr zu werden. Die Teilnehmer bildeten sogleich Gruppen, die in ihrer Sichtweise zusammen passten. Alle Teilnehmer konkurrierten mit ihren Argumenten, wie man mit dem Problem Baby umgehen solle.
Die Sitzung begann wieder und die Mitglieder wurden gebeten abzustimmen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die erste Gruppe, die am größten war, ungefähr 40 % der Teilnehmer waren klar gegen die Aufnahme Babys in den Islam. Für sie gab es da kein Abwägen und keinen Kompromiss.
Währenddessen waren ungefähr 35 % zwar prinzipiell nicht für die Aufnahme Babys, meinten aber, man müsste trotzdem noch Babys Sicht hören. Sie waren der Meinung, dass sich die Ratsversammlung politisch korrekt verhalten und das Prinzip der Gerechtigkeit befolgen müsste. Die folgende Gruppe unterstütze mit 23 % Kyai Fikri. Diese Gruppe war zwar relativ klein, aber ihre Stimmen hatten für gewöhnlich Einfluss auf die Mehrheit der Mitglieder wegen ihrer gesellschaftlichen Position und ihres von der Allgemeinheit geachteten sozialen Status. Unter ihnen gab es auch Leute, die nur zustimmten, weil sie Kyai Fikri und seine Einzigartigkeit bewunderten. Die übrigen Mitglieder enthielten sich der Stimme. Sie hatten an keinerlei Konfliktfragen Interesse.
Die Gruppen debattierten mit ihren Argumenten untereinander, doch es konnte noch keine Entscheidung getroffen werden, weil es keine Mehrheit gab. Schließlich musste die Sitzung wegen des fortgeschrittenen Abends unterbrochen werden, um sie am nächsten Tag fortzusetzen.
In dieser Zwischenzeit wurde die Gruppe der 35 % umworben. Die beiden anderen Lager versuchten sie von ihrer Position zu überzeugen. Die Gruppe der 40 % dachte, da sie ja nur noch wenige zusätzliche Stimmen benötigten, um die Mehrheit der Stimmen zu erreichen, dass es viel einfacher wäre, wenn die Gruppe der 35 % nicht so ethisch argumentieren würde. Warum betonten sie die Ethik so? Das Ergebnis war doch klar: nicht zuzustimmen. Aber die 35 %-Gruppe bestand aus Leuten, für die das Verfahren sehr wichtig war und die unbedingt wollten, dass der Rat in der Öffentlichkeit gut dastand.
Die 23 %-Gruppe hingegen hatte eine prinzipiell andere Handlungsweise. Sie ärgerte sich über die 35 %-Gruppe, die ihrer Meinung nach die Wirkung auf andere zu sehr in den Fokus stellte, unbedingt gelobt werden wollte und nicht konsistent war. Doch die 35 %-Gruppe stellte eine signifikante Menge dar und wollte ein gerechtes Verfahren anwenden, auch wenn es pure Kosmetik war. Die 23 %-Gruppe dachte, dass es schon ein großer Schritt nach vorn wäre, wenn sie wenigstens erreichen könnte, dass Baby zu einer Sitzung kommen durfte, verbunden mit der Möglichkeit, dass ihr Wunsch doch noch die Zustimmung des Rates erhielte – wie gering die Wahrscheinlichkeit auch sein mochte.
Die Debatte und die Verhandlungen waren sehr zäh, sogar nur über die Möglichkeit Baby zur nächsten Ratssitzung einzuladen. Denn für viele Teilnehmer wäre das die erste Interaktion ihres Lebens mit einem Schwein gewesen. Die Sitzung wurde ohne Ergebnis für 2 Tage unterbrochen.
Nach diesem langen Prozess schritten die Ratsmitglieder zur endgültigen Abstimmung. Das Ergebnis war, dass der Rat es offiziell ablehnte, dass Baby eine Muslima wurde.
Das Gesicht Kyai Fikris verdunkelte sich. Er bat um ein letztes Wort, bevor die Sitzung offiziell für beendet erklärt wurde.
„Unabhängig vom Ergebnis bedanke ich mich für den Prozess der Entscheidungsfindung, der harte Arbeit von allen Ratsmitgliedern verlangt hat. Ich hasse es Baby enttäuschen zu müssen, aber ich werde in das Dorf zurückkehren und ihr folgendes sagen: Jeder kann Moslem oder Muslima werden, indem er sagt: ‚Es gibt keinen wahren Gott außer Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes.‘“ Kyai Fikris Augen wurden feucht. „Es gibt nichts, was jemanden davon abhalten könnte, Moslem zu werden. Sogar Muslime können dies nicht verhindern. Das werde ich Baby sagen.”
Der Raum war ganz still geworden und einige Mitglieder waren bewegt, dachten an Baby, die durch ihre Ablehnung am Ende ihres Lebens enttäuscht worden war. Aber die Entscheidung war ja bereits getroffen und sie verabschiedeten sich voneinander, baten einander um Verzeihung und bedankten sich für den Prozess der dreitägigen Sitzung. Während die Menschen nach draußen strömten, nahm ein Ratsmitglied Kyai Fikris Arm und flüsterte ihm ins Ohr.
„Kyai, kann ich mit ins Dorf kommen?”, fragte er und wurde dabei rot. „Wenn Baby sich schon zum Islam bekannt hat, würde ich gern mitkommen und ihr Fleisch probieren.”
Übersetzt aus: Feby Indirani: Bukan Perawan Maria; Paperback, Pabrikultur, 2017
© Feby Indirani, Gudrun Ingratubun