Faisal Oddang: Warum beten sie zu einem Baum?

Ich habe mich in einen Baum verwandelt. Die Menschen in meinem Dorf glauben daran, auch wenn sie dies wortreich verteidigen müssen, bis sie Schaum vor dem Mund haben. Seit 1947 glauben sie daran. Der Tamarindenbaum ist inzwischen schon groß und er wird immer älter. Inzwischen braucht man ungefähr fünf erwachsene Männer, um den Baumstamm zu umfassen. Fast jeden Tag drängen sich die Menschen an diesen Baum, sprechen unterschiedlichste Gebete, wobei sie verschiedenfarbige Stoffe um den Baum binden und geloben, sie erst dann wieder zu lösen, wenn sich ihr Gebet erfüllt hat. Also wundert euch nicht, wenn um die Zweige, die Äste, den Stamm – ich glaube ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass um jeden Teil des Baumes ein Stück Stoff gewickelt ist. Es gibt so viele Gebete dort. Um meinen Körper zu schützen, verläuft eine brusthohe moosfarbene Mauer um mich herum. Die Betenden haben sie gebaut.

Aber als der Krieg 1947 erneut ausbrach, gab es den Tamarindenbaum noch nicht. Es spielte sich ungefähr folgendes ab: Wir wurden wie Wasserbüffel zusammengetrieben. Unsere Finger waren mit Stricken aus Padanusbläattern zusammengebunden. Die holländischen Gewehrläufe gaben uns die Richtung an – und mehrmals wurden unsere Schritte noch schneller durch Kolbenhiebe in den Nacken oder ins Schienenbein. Wir wussten, dass nur noch wenig Zeit blieb, bis unsere Leben eins nach dem anderen ausgelöscht werden würden.

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Der Dezember 1946 hatte gerade begonnen, als mich in der Musholla, dem Ort an dem ich Kindern Koranunterricht gab, eine Nachricht erreichte. Ich gab Rahing ein Zeichen. „Die Kinder sollen es nicht hören“, sagte ich mit gedämpfter Stimme, während ich aufstand und gefolgt von Rahing in den hinteren Teil der Mosholla ging. Ich bat die Kinder, selbständig weiterzulesen. „Ich komme bald zurück“, versprach ich ihnen.

„Sie sind bereits in Makassar”, noch nie hatte Rahings Stimme so angsterfüllt geklungen, „Truppennachschub, viele weitere Truppen”, ergänzte er mit zitternder Stimme.

„Halten wir uns bereit”, sagte ich, bemüht meine Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl mein Herz heftig pochte, in meinem Herzen ein Sturm tobte. Aus Makassar hatte ich gehört, dass sie die Widerstandszentren in Süd-Sulawesi wieder unter ihre Kontrolle bringen wollten. Diese Meldung war schon vor einigen Wochen zu mir gedrungen, vor Rahings Nachricht über die Ankunft der Spezialtruppen, Depot Speciale Troepen—DST, KNIL, die sich bereits auf dem Weg in unser Dorf befanden, nach Bacukikki, dem Herzen des Landkreises Parepare.

Mit Rahing und mit den anderen Andi-Makassau-Kämpfern hatte ich vor der Unabhängigkeit zusammen gekämpft – und nachdem wir bereits alles erreicht hatten, kehrten diese gottverfluchten Kolonisten zurück. Bevor Rahing ging, fragte er noch nach unseren Aktivitäten in der Musholla, wie es den Kindern ginge und er beklagte, wie anstrengend es für ihn wäre, die Bewohner immer wieder in die Verstecke im Wald zu führen und wieder zurück ins Dorf. Ich klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und sagte: „So Gott will, wird alles gut!“

“Ich mache mich auf den Weg. Assalamualaikum, Ustad.“

Ich erwiderte den Abschiedsgruß und beeilte mich, mein Versprechen gegenüber den Kindern zu erfüllen. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Kinder das arabische Alphabet auf buginesisch buchstabieren. Dies erwärmte mein Herz: yase’na lefue nakkeda a, yase’na lefue mallefa nakkeda aaa…. Meine Gedanken gingen zu meinem vor Kurzem getöteten fünfjährigen Sohn – und ich konnte nicht verhindern, dass Tränen über meine Wangen liefen.

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Rahings Nachricht wurde von einem Kämpfer zum nächsten weitergegeben. So wie das Zischen der Gewehrkugeln vor ein paar Jahren hatte das Eintreffen von Trauernachrichten aus Makassar kein Ende nehmen wollen. Die erste Nachricht kam aus Borong und Batua, beides Orte, von denen wir glaubten, dass die Guerilleros dort sicheren Unterschlupf hatten, und noch andere schwer erklärliche Gerüchte waren im Umlauf. Dann folgten weitere Regionen, Gowa und Takalar. Diese Hiobsbotschaften erreichten uns, jedoch ohne die genaue Anzahl der Toten zu nennen. „Nicht mehr lange und sie werden hier sein“, berichtete eines Abends einer unserer Kämpfer in der Musholla, als es schon keine Koran-Rezitationsübungen mehr gab, nachdem ein Rundschreiben der niederländischen Regierung das Kriegsrecht ausgerufen hatte.

„Kinder, ich werde euch Bescheid sagen, wenn wir wieder beginnen den Koran zu rezitieren. Jetzt habt ihr erst mal frei. Übt zu Hause weiter…”

Ich hatte Angst um sie und meine Sorge wuchs von Tag zu Tag. Wie ein Seemann, der immerzu fürchtet, in einen Wirbelsturm zu geraten. Fast jeden Abend kamen wir zu Lagebesprechungen zusammen, vom Nachtgebet bis zum Morgengebet. Eigentlich handelte es sich nicht vordringlich um Lagebesprechungen sondern um eine Art Nachtwache. Als Leiter der Bacukikki-Krieger, die den Andi-Makassau-Kriegern unterstellt waren, als Zentrum des Widerstands der Bevölkerung von Parepare, stellte ich den Versammlungsort zur Verfügung und leitete die Sitzungen. Das war auch der Grund, warum ich die Kinder gebeten hatte, zuhause den Koran zu rezitieren, abgesehen davon, dass ich sie auch nicht in Gefahr bringen wollte.

„Wir müssen realistisch sein, Ustad.”

Eine lange Stille. Sogar den Windzug meines eigenen Atems konnte ich hören. Niemand fragte, was Rahing mit realistisch gemeint hatte. Doch dann gab Rahing selbst die Erklärung, ohne dass ihn jemand darum gebeten hätte.

„Wir sind zahlenmäßig unterlegen, waffenmäßig unterlegen, insgesamt unterlegen…”

Es war nicht zu übersehen, Rahing konnte seine große Sorge nicht verbergen. Er hatte vor Kurzem geheiratet. Ich selbst hatte die Trauung vollzogen. Ich wusste, dass er nicht nur um sich selbst Angst hatte. Auch um seine Frau – und wahrscheinlich auch um ein ungeborenes Kind. Deswegen schwieg ich, nickte ab und zu, als ob ich schläfrig sei.

Die Schatten des Kampfes vor der Unabhängigkeit, der Schatten meiner Frau Fatimah, meines fünfjährigen Sohnes Akbar und andere Erinnerungen röteten meine Augen. Akbars Schrei um Hilfe, Fatimas Schrei Allahu Akbar, und der zweite Schrei, nachdem eine Granate unser Stelzenhaus an jenem Abend zerstört hatte. Man hatte mich beschuldigt, die Kinder zu Rebellen auszubilden, nur weil ich sie in Koran-Rezitation unterrichtete, aber nachdem ich alles verloren hatte, war ich entschlossen selbst ein Guerilla-Kämpfer zu werden, die Kämpfer anzuführen und die Unabhängigkeit zu verteidigen. Als ich das Gefühl hatte, dass alles vorbei war, hatte ich die Kinder wieder versammelt, sie hatten wieder die Silben „alif-ba-ta“ aufgesagt. Doch wieder mussten wir aufhören.

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Mitte Januar, einen Monat nach Rahings Meldung, waren sie auf dem Vormarsch zu unserem Dorf. Die Regenzeit hatte gerade begonnen, aber niemand wagte es das Reisfeld zu bestellen. Alle hatten Angst. Aber ein paar Leute nahmen doch ihren Mut zusammen, darunter auch ich.

Die Sonne geht einzig und allein am Horizont unter, und das Leben wird nur durch den Tod beendet. Unzählige Male versicherte ich mich meiner selbst im Spiegel, sah nach, ob mir vielleicht irgendein Körperteil fehlte. Alles war vollständig. So machen sich die Bugis-Leute Mut, bevor sie in den Krieg ziehen. Mein Bart wuchs dicht, stellenweise schon grau. Auch auf meinem Kopf zeigten sich ein paar graue Haare, nicht ungewöhnlich für einen Mann in den Fünfzigern. Meine Augen hatten einen todtraurigen Ausdruck und meine Wangenknochen zeichneten sich immer deutlicher ab. An meiner Schläfe war eine große Verletzung zu sehen, eine Narbe von einem Granatsplitter jener Nacht.

Ya Hayyu, Ya Qayyum – oh Allmächtiger, Allgegenwärtiger, sagte ich in meinem Herzen immer wieder, bis ich mich wirklich bereit fühlte. Obwohl ich immer wieder Verschnaufpausen einlegen musste, wegen meines sich verschlimmernden Hustens mit blutigem Auswurf. Es wird erzählt, dass Muhammad dies auch immer wieder gesagt habe, während seiner schlaflosen Nächte im Badar Krieg, als er auf die Quraisy wartete.

Es wurde heftig an der Tür geklopft, von jemandem, der es eilig zu haben schien. Tatsächlich, als ich öffnete, sah ich in Rahings bleiches Gesicht. Er stammelte, dass der türkische Schlächter schon an der Grenze stände und die Kämpfer versuchten, ihn aufzuhalten. Er fuhr fort: „Ich muss erst meine Frau in Sicherheit bringen. Es tut mir leid, Ustad. Ich spürte augenblicklich Wut in mir hochkochen. Was für ein Egoist! Doch dann stellte sich meine eigene Erfahrung meinem Zorn entgegen. Ich wollte nicht, dass Rahing dieselbe schmerzhafte Erfahrung wie ich machen musste.

„Wenn Du das erledigt hast, schließe dich uns an”, sagte ich fast schreiend, seinen eiligen Schritten folgend. Ich marschierte mit ungefähr 20 Bacukikki-Kämpfern in Richtung Landkreisgrenze, in strömendem Regen, der seit gestern Nachmittag ununterbrochen niederprasselte. Doch wie ein machtloser Tod hatten wir den Einmarsch der holländischen Soldaten eingeschätzt. Die Situation stellte sich völlig anders dar, die Verteidigung an der Grenze war schon überwunden, wir waren sofort unter Druck, sahen uns gezwungen, in den Häusern der Dorfbewohner Zuflucht zu suchen. Ich bereute diese Entscheidung. Die Menschen, die uns Schutz gewährt hatten, wurden nun ebenfalls auf den Dorfplatz getrieben, als sich der Nachmittag dem Ende neigte. Egal ob Mann oder Frau, ob jung oder alt.

In einer langen Reihe knieten wir auf dem Boden, die Hände nach hinten gebunden. Hunderte von Menschen, ohne die Möglichkeit zu entkommen, geschweige denn Widerstand zu leisten. Meine Brust war wie ein Feuer, das alles sehr bewusst wahrnahm. Ein Mann, scheinbar der Anführer der DST, näherte sich der Menschenansammlung. Er sah uns einen nach dem anderen in der Dämmerung eindringlich an. Wen er wohl suchte, fragte ich mich. Sein Blick war kalt. Er war anders als die Anderen, die uns auslachten und verhöhnten. Sein Gesicht war fast ausdruckslos. Vielleicht…vielleicht war er der, den Rahing als türkischen Schlächter  bezeichnet hatte. Der gottverfluchte Westerling? Meine Brust wurde immer heißer. Ich fühlte mich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, gebrochenem Schnabel. Immer noch inspizierte er schweigend unsere Gesichter der Reihe nach. In der Hand trug er eine Browning P-35, mit deren Spitze er ein Kinn anhob, wenn jemand nach unten guckte. Plötzlich löste sich ein Pistolenschuss. Der Schall betäubte meine Ohren und der Gestank von Schießpulver erfüllte die Luft. Ein Frauenkörper fiel vor mir zu Boden.

„Sie ist die Frau eines Rebellen!“, schnappte ich aus seinem gebrochenen, verzerrten Indonesisch auf. Es entstand ein Durcheinander, ein paar Leute versuchten zu fliehen, wenig später fielen ihre Körper zu Boden und ihr Blut vermischte sich mit Regenwasser. Dutzende Seelen wurden augenblicklich ausgelöscht, in weniger als fünf Minuten. Als die DST-Truppen die Situation wieder unter Kontrolle hatten, wurde die Untersuchung fortgesetzt und ihre Gewehre beförderten noch mehr unschuldige Körper in den Tod. Im Laufe der Nacht wurde der Regen immer heftiger. Es blitzte einige Male und ein Sturm kam auf. Einige der DST-Truppen konnten dies nicht mehr aushalten und es entstand wieder Unruhe. In der Dunkelheit schossen sie nun ohne Mitgefühl auf uns. Schreien und Stöhnen wechselten einander ab, der metallene Geruch von Blut mischte sich mit dem von Schießpulver. Am folgenden Tag ließ der Regen nach. Hunderte Leichen lagen verstreut auf dem Dorfplatz, nur mein Körper nicht. Der war verschwunden. Für die Leute von Bacukikki bin ich nun heilig.

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„So war das Leben Ustad Syamsuris. Wie ein Tamarindenbaum. Seine Früchte werden als Gewürz beim Kochen benutzt, seine Blätter als Gemüse, seine Äste als Feuerholz und sein Stamm kann zu Brettern oder zu einem Hauspfosten werden.“

Unter Tränen erzählte Rahing dies den Menschen, die sich auf dem Platz versammelt hatten, den Tamarindenbaum betrachteten, der einige Wochen nachdem die DST-Truppen Parepare verlassen hatten, dort gewachsen war.

„Am meisten schätze ich an einem Menschen, wenn er seinen Mitmenschen hilft“, fuhr Rahing schluchzend fort. „Die Seele von Ustad Syamsuri hat sich hier auf dem Platz in einen Tamarindenbaum verwandelt, ein Baum der sehr hilfreich und nützlich ist. Sein Körper ist zum Himmel aufgestiegen. Ich bereue es, nicht mit ihm zusammen ein Märtyrer geworden zu sein. Lasst uns für ihn beten. Al-Fātiḥa!“

Seit diesem Tag kamen die Leute häufig hierher und beteten am Tamarindenbaum, bis zum heutigen Tag – Jahrzehnte später. Tatsächlich war es mir gelungen zu entkommen und im Landkreis Wajo Zuflucht zu finden. Dort erlag ich meiner Tuberkulose. Ich starb einige Zeit nachdem General Simon Spoor, der Leiter des niederländischen Angriffs, das Kriegsrecht in Süd-Sulawesi im Februar 1947 aufgehoben hatte.

Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus: Faisal Oddang: Sawerigading Datang dari Laut. DIVA Press, Januar 2019.

© Faisal Oddang, Gudrun Ingratubun