Feby Indirani: Die Frau, die ihr Gesicht verlor

Eines Morgens erwachte Annisa und sah in den Spiegel. Da stellte sie fest, dass sie keine Nase mehr hatte. „Astaghfirullah!“, rief sie laut. Wäre Razi, ihr Mann, zu Hause, wäre er wahrscheinlich schon aus seinem Lieblingsschaukelstuhl aufgesprungen. Doch Razi befand sich gerade auf einer Dienstreise und würde erst in fünf Tagen zurückkehren. „Oh Gott, was soll ich nur tun?“ Annisa geriet in Panik.

Für einige Zeit vergrub sie ihr Gesicht im Kopfkissen. Der Spiegel in ihrem Zimmer wurde zu einem angsteinflößenden Gespenst. Stundenlang weinte sie und beklagte ihr Schicksal. Wie hatte es passieren können, dass ihre Nase über Nacht verschwunden war?

Genauer gesagt hatte sie einen schlanken Nasenrücken und eine rundliche, liebenswerte Nasenspitze gehabt. Was nun übrig geblieben war, waren die beiden Nasenlöcher und die unteren Hälften der Nasenflügel. Sie hatte keinerlei Schmerzen und konnte wie gewohnt ein und ausatmen, durch eben diese Nasenlöcher, die bis vor Kurzem ihre Nase gewesen waren. Doch wie unbeschreiblich hässlich sah ihr Gesicht ohne Nase aus!

Annisa hegte noch die Hoffnung, dass dies alles nur ein böser Traum gewesen sein könnte. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie nicht geträumt hatte. Sie hatte keine Nase mehr, oder präziser gesagt, keinen Nasenrücken. Sie war erschüttert. Doch jetzt versuchte sie rational zu denken, verschiedene mögliche Schritte abzuwägen. Sollte sie sich an einen Arzt im Krankenhaus wenden? Ja, das würde sie tun. Nein, dafür würde sie lieber erst Razis Rückkehr abwarten. Aber sie wollte Razi nicht jetzt kontaktieren, denn sie wollte seine Konzentration bei der Arbeit nicht stören. Außerdem vermutete sie, dass das Wiederherstellen ihrer Nase eine beträchtliche Summe kosten könnte. Und als gute Ehefrau sollte sie einen so großen Betrag nicht ausgeben, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes eingeholt zu haben. Ins Krankenhaus zu gehen hatte auch keine große Dringlichkeit, denn sie hatte ja keinerlei Schmerzen.

Ja, es handelte sich um ein ästhetisches Problem, ihre Gesundheit war nicht in Gefahr. Obwohl sie sich in ihren Grundfesten erschüttert fühlte, wusste Annisa doch instinktiv, dass ihr Zustand nicht lebensbedrohlich war.

Gut, dies war nicht das Ende der Welt. Sie atmete normal. Annisa musste nur heute wie gewöhnlich aus dem Haus gehen. Sie zog ihr dunkelblaues Kopftuch an, kombiniert mit einem Gesichtsschleier, dem Niqab, der ihr Gesicht bis auf die Augen und Augenbrauen verdeckte. Welch Glück, dass ich einen Niqab trage, dachte Annisa erleichtert.

Für einen Moment fokussierte Annisa sich auf die Dinge, die heute zu erledigen waren: die Schule, die von ihrer Familie betrieben wurde, besuchen und eine Versammlung mit den Lehrern abhalten. Sicherstellen, dass die Renovierung des Schulgebäudes sofort beginnen konnte, vor Beginn des Schuljahrs. Vielleicht würde sie auch an einem Treffen mit der Baufirma teilnehmen. Das wäre dann eine Sitzung nach der anderen. Danach hatte sie geplant, sich ein bisschen zu pflegen und in einen Schönheitssalon für Muslimas zu gehen. Aber das würde sie lieber absagen, sie wollte die Mitarbeiterinnen nicht mit ihrem Anblick erschrecken. Vielleicht würde sie anschließend lieber direkt in den Supermarkt gehen, um Lebensmittel einzukaufen.

In Gedanken versunken fuhr sie ihr Auto sehr langsam. Als sie das Schultor erreichte, begann ihr Herz laut zu schlagen. Sie fühlte sich nicht dazu bereit, in ihrem Zustand viele Menschen zu treffen. Sie wandte ihren Blick in den Rückspiegel und sah den Niqab, der ihr Gesicht verdeckte. Man sieht keinen Unterschied, sagte sie sich. Niemand wird bemerken, ob ich eine Nase habe oder nicht, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.

Drei mit Kopftüchern bekleidete Mädchen rannten zu ihrem Auto, als sie ausstieg. Die Schülerinnen begrüßten sie mit einem respektvollen Handkuss.

„Frau Nisa… Frau Nisa…“, riefen die Kinder. Weil sie ihr Auto genau kannten, begrüßten sie Annisa mit ihrem Namen, bevor sie sie sehen konnten.

Die Mädchen trugen einfache weiße Kopftücher, die ihr Gesicht frei ließen. Sie lächelten, während Annisas Hand einer nach der anderen den Kopf streichelte. Annisas Blick fiel auf ihre Nasen.

Annisa betrat den Versammlungsraum der Lehrer, wo sie schon erwartet wurde. Die Sitzung nahm ihren Lauf und hier gelang es Annisa ihre eigenen Probleme zu vergessen. Als die Gebetszeit kam, wurde Annisa wieder an ihre Probleme erinnert. Aber sie hatte einen speziellen sehr privaten Raum an der Schule. Dort konnte sie unbeschwert beten ohne zu befürchten, dass jemand einen Blick auf ihr unverhülltes Gesicht werfen konnte.

Trotzdem war sie nur mit halben Herzen bei ihrem Gebet, sie fühlte sich wie jemand, der sich versteckt, wie jemand, der Angst hat. Du musst stark sein, Nisa, du musst stark sein, sprach sie sich selbst Mut zu. So gestaltete Annisa ihren Tag, sie konzentrierte sich so gut wie möglich auf die Menschen, denen sie begegnete, und versuchte, für deren Probleme eine Lösung zu finden. Oft musste sie selbst die letzte Entscheidung treffen.

Diese Schule war damals von ihren Eltern gegründet worden, und Annisa war es wichtig für das Fortbestehen der Schule zu sorgen. Sie war dankbar, dass Razi damit einverstanden war, dass sie die Schule weiter führte. Razi unterstütze auch die Vision der Schule, eine gläubige junge Generation auszubilden, für die die religiöse Bildung wichtiger war als alles andere.

Das letzte das sie heute zu erledigen hatte, war der Besuch im Supermarkt. Das konnte ja nicht so schwer sein, dachte sie, wo ich diesen Tag schon bis hierhin gemeistert habe. Aber heute war es ihr besonders unangenehm unter den vielen Leuten. Annisa bemerkte einige Menschen, die sie mit neugierigen Blicken musterten. Das war bestimmt wegen ihres Niqabs.

Einen Gesichtsschleier zu tragen war in Jakarta nichts Gewöhnliches, obwohl sie durchaus nicht die Einzige war. Nach den drei Jahren, die sie den Niqab nun auf Wunsch ihres Ehemanns trug, war sie schon an die vorwitzigen Blicke gewohnt. Besonders wenn sie sich in einem Restaurant aufhielten, schauten noch mehr Menschen sie unverhohlen an, die wissen wollten, wie sie es bewerkstelligte, mit einem Gesichtsschleier zu essen. Anfangs hatte es sie gestört, aber dann gewöhnte sie sich daran und beachtete es nicht weiter.

Zu Beginn hatte Nisa Razis Bitte, ein Niqab zu tragen, abgelehnt, obwohl sie schon seit ihrer Jugend Kopftuch trug. Niqab zu tragen war doch noch etwas anderes. Aber laut Razi war es der richtigere, auf den religiösen Geboten basierende Weg.

„Man sollte den religiösen Weg Kaffah gehen, der sich auf alle Lebensbereiche bezieht, Ummi“, hatte Razi mit sanfter, liebevoller Stimme zu ihr gesagt. „Insbesondere weil du so eine schöne Frau bist. Auch wenn Du ein Kopftuch trägst, ist deine Schönheit noch deutlich sichtbar. Und ich bin oft auf Dienstreisen, besuche andere Orte. Da ist es mir nicht angenehm, wenn meine Frau die Blicke anderer Männer auf sich zieht“, ergänzte er sanft und strich ihr dabei übers Haar. Verhielt er sich ihr gegenüber auf diese Weise, schmolzen Nisas Einwände dahin. Razi zwang ihr nie seinen Willen auf, aber er schmeichelte ihr und erläuterte ihr, was er für richtig hielt und wie eine fromme Ehefrau sich verhalten sollte.

Schließlich, wenn auch ein wenig halbherzig, entsprach sie dem Wunsch ihres Ehemanns, einen Niqab zu tragen. Er hatte auch recht behalten, mit Niqab fühlte sie sich tatsächlich sicherer und geschützter vor den Blicken fremder Männer.

Doch Niqab zu tragen machte ihr manchmal das Leben auch schwerer. Ja, wie zum Beispiel beim Essen im öffentlichen Raum. Oder wegen des feucht-heißen Klimas in Jakarta. Oder wenn sie im Einkaufszentrum oder sonst irgendwo in der Öffentlichkeit Freunde traf. Annisa musste lauter rufen, wenn sie Freunde sah, die sie lange nicht getroffen hatte und die sie bestimmt nicht erkennen würden, weil ihr Gesicht verdeckt war.

Manchmal, wenn ihr die Energie dazu fehlte, entschied sie sich auch, an ihr vorbeigehende Freunde von früher nicht anzusprechen. Eigentlich machte es ja keinen Unterschied, sie würden es ohnehin nie erfahren. Trotzdem beschlich sie dann das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, insbesondere wenn es gute Freunde von früher betraf.

An jenem Tag zum Beispiel sah sie Arifin ganz deutlich, einen Mann, der ihr, puh, einmal sehr nahe gestanden hatte. Hm. Nahe, dieses Wort beschreibt ihr Verhältnis nur unzureichend. Treffender wäre zu sagen, dass sich Arifin für einige Zeit darum bemüht hatte, sie näher kennenzulernen und als Verlobte zu gewinnen, bis sie sich dann schließlich für Razi entschieden hatte.

Arifin stand nur wenige Meter von ihr entfernt, in der Obstabteilung des Supermarktes. Annisa spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Der Mann sah immer noch so gut aus wie in ihrer Erinnerung. Er war etwas fülliger geworden, nicht mehr so schlank wie damals als Student.

Sollte sie ihn ansprechen oder nicht? Ansprechen oder nicht. Annisa befand sich plötzlich in einem Dilemma. Sie sah weiterhin zu, wie Arifin mit der Hand Orangen auswählte, ohne zu bemerken, dass ihm ein Augenpaar mit aufgewühlter Brust dabei folgte.

So ist es halt für eine Frau, die Niqab trägt. Annisa erlebt es oft, dass die Entscheidung, ein Freundschaftsband weiterzuführen, in ihrer Hand lag. Sie konnte bestimmen, ob sie sich zu erkennen gab oder nicht. Trüge sie keinen Niqab, hätte sie Arifin auf die kurze Entfernung hin mit großer Wahrscheinlichkeit erkannt und zuerst angesprochen – so dass Annisa nicht ihren Stolz hätte überwinden müssen. Andererseits war der Gedanke, in der jetzigen Situation keinen Niqab zu tragen und einen Mann aus ihrer Vergangenheit zu treffen, auch nicht vorteilhaft.

Nicht, wenn sie keine Nase mehr hatte.

Jetzt oder nie. Annisa sprach sich Mut zu, um Arifin anzusprechen. Sie würde einen Gruß sagen und den Mann ansprechen, der sicher ihre Stimme erkennen würde. Und wenn auch nur für eine kurze Weile, würde Annisa sich mit ihm unterhalten und sehen wie er darauf reagierte, sie zu treffen.

„Brauchst du so lange? Komm, sonst verpassen wir den Anfang des Films…“, näherte sich eine Frau Arifin und strich ihm über den Rücken, in dem Moment, als Annisa auf ihn zugehen wollte.

Die Frau war hübsch, trug kein Kopftuch, wirkte wie eine junge berufstätige Frau, mit wohlgeformten Augenbrauen und leuchtend pinkem Lippenstift. Annisa gelang es gerade noch, einen Blick auf ihre kleine Nase zu werfen, die mit ihrem ovalen Gesicht harmonierte. Annisa wandte sich vom Anblick der beiden ab und schritt in Richtung Kasse. War sie seine Frau? Seine Partnerin? Der Körpersprache nach zu urteilen standen sie sich nahe. Die Frage, die sich mit aller Macht in ihren Kopf drängte, war die, wie es möglich war, dass Arifin sich mit einer Frau befreundet hatte oder gar mit ihr liiert war, die nicht zu ihrer Gruppe gehörte. Früher war Arifin einer der von vielen bewunderten Leiter ihrer Rezitationsgruppe gewesen, der die Ausdauer für lange Rezitationen besaß und voller Begeisterung war, die Religion zu verteidigen. Wie hatte er sich so schnell verändern können? Vielleicht weil er sie nicht hatte heiraten können?

Annisa war sehr aufgewühlt, als sie nach Hause zurückkam. Sie vermisste Razi, aber ihr Mann würde heute Abend noch nicht zurückkehren. Sie würde wieder allein schlafen müssen. Beim Abendgebet weinte sie bitterlich, fühlte sich leer.

Sie schickte ihrem Mann eine SMS: „Abi, ich habe Sehnsucht nach dir. Ich kann es nicht erwarten, bis du nach Hause kommst. Abi, wenn ich nicht mehr hübsch bin, wirst du mich dann immer noch lieben?“

Ihre Nachricht wurde nicht gelesen. Da wo ihr Mann arbeitete, gab es in der Tat oft kein Signal. Anisa holte tief Luft und versuchte zu schlafen. In ihrem Traum schien jemand eine Skizze von ihrem Gesicht zu malen, ihr welliges, ungeordnetes Haar. Ihr Haar, das sie sich auf den Wunsch ihres Mannes hin hatte lang wachsen lassen. Sie schien hinter dem Maler zu stehen und beobachtete, wie er das Gemälde von ihrem Gesicht vervollständigte und bewunderte ihre eigene Schönheit in dem Gemälde. In dem fast vollendeten Gemälde. Doch dann erschrak sie, denn plötzlich trug der Maler weiße Farbe auf ihre Nase auf, zerstörte das Bild von ihrem Gesicht.

„Nicht doch! Warum? Nein!“ Sie spürte, wie ihre Hand an der Schulter des Malers rüttelte. Doch der Maler ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Er steuerte mit seinem Pinsel auf den Mund des Bildes zu. So zerstörte er das eben noch schöne Gesicht immer mehr. Es blieben nur noch zwei schöne Augen übrig. Nun hielt der Maler seinen Pinsel genau über die Augen, als ob er gerade überlegte, abwartete, was ihm sein Herz sagen würde.

„Nein… nein…“, Annisa schüttelte den Maler erneut. In diesem Moment wachte sie auf. Sie hatte kein Zeitgefühl. War es noch Nacht? Begann der Morgen schon zu grauen? Hatte sie den Morgengebetsruf überhört?

Annisa fühlte die Überreste getrockneter Tränen auf ihren Wangen. Sie befühlte ihr Gesicht, zögernd und ängstlich. Sie ertastete den Ort, an dem sie bis vor Kurzem eine Nase gehabt hatte. Sie fühlte nichts. Ihre Finger bewegten sich langsam und wollten ihre Lippen berühren.

Es war als hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie konnte ihre Lippen nicht mehr fühlen. Sie bewegte ihren Mund und konnte ihren eigenen Atem aus dem verbliebenen Loch spüren. Aber sie fühlte ihre Lippen nicht mehr. Annisa fühlte sich völlig erschöpft. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft schleppte sie sich zum Spiegel.

Annisa sah ihr Gesicht, genauer gesagt das, was von ihrem Gesicht noch übrig war. Die Löcher ihrer früheren Nase, das Loch ihres früheren Mundes. Vom Weinen zugeschwollene Augen, durch die Augenlider verdeckt. Nur ihre schmalen Augenbrauen waren noch übrig. Niemand würde so ihr Gesicht erkennen können. Nicht mal sie selbst erkannte sich wieder. Annisa weinte immer heftiger.

Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, wurde Annisa sich dessen bewusst, das draußen noch viele Aufgaben auf sie warteten. Also nahm sie all ihre Kraft zusammen, legte Kopftuch und Niqab an. Ging aus dem Haus um ihren Tätigkeiten nachzugehen. Bevor sie ihr Auto startete, bekam sie eine SMS. „Ich liebe dich, was auch immer passieren mag. Pass gut auf dich auf. Der beste Schmuck ist eine fromme Frau. Und eine fromme Frau folgt den Worten ihres Ehemanns.“

Eines Morgens erwachte Annisa und sah in den Spiegel. Da stellte sie fest, dass sie keine Nase mehr hatte. „Astaghfirullah!“, rief sie laut. Wäre Razi, ihr Mann, zu Hause, wäre er wahrscheinlich schon aus seinem Lieblingsschaukelstuhl aufgesprungen. Doch Razi befand sich gerade auf einer Dienstreise und würde erst in fünf Tagen zurückkehren. „Oh Gott, was soll ich nur tun?“ Annisa geriet in Panik.

Für einige Zeit vergrub sie ihr Gesicht im Kopfkissen. Der Spiegel in ihrem Zimmer wurde zu einem angsteinflößenden Gespenst. Stundenlang weinte sie und beklagte ihr Schicksal. Wie hatte es passieren können, dass ihre Nase über Nacht verschwunden war?

Genauer gesagt hatte sie einen schlanken Nasenrücken und eine rundliche, liebenswerte Nasenspitze gehabt. Was nun übrig geblieben war, waren die beiden Nasenlöcher und die unteren Hälften der Nasenflügel. Sie hatte keinerlei Schmerzen und konnte wie gewohnt ein und ausatmen, durch eben diese Nasenlöcher, die bis vor Kurzem ihre Nase gewesen waren. Doch wie unbeschreiblich hässlich sah ihr Gesicht ohne Nase aus!

Annisa hegte noch die Hoffnung, dass dies alles nur ein böser Traum gewesen sein könnte. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie nicht geträumt hatte. Sie hatte keine Nase mehr, oder präziser gesagt, keinen Nasenrücken. Sie war erschüttert. Doch jetzt versuchte sie rational zu denken, verschiedene mögliche Schritte abzuwägen. Sollte sie sich an einen Arzt im Krankenhaus wenden? Ja, das würde sie tun. Nein, dafür würde sie lieber erst Razis Rückkehr abwarten. Aber sie wollte Razi nicht jetzt kontaktieren, denn sie wollte seine Konzentration bei der Arbeit nicht stören. Außerdem vermutete sie, dass das Wiederherstellen ihrer Nase eine beträchtliche Summe kosten könnte. Und als gute Ehefrau sollte sie einen so großen Betrag nicht ausgeben, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes eingeholt zu haben. Ins Krankenhaus zu gehen hatte auch keine große Dringlichkeit, denn sie hatte ja keinerlei Schmerzen.

Ja, es handelte sich um ein ästhetisches Problem, ihre Gesundheit war nicht in Gefahr. Obwohl sie sich in ihren Grundfesten erschüttert fühlte, wusste Annisa doch instinktiv, dass ihr Zustand nicht lebensbedrohlich war.

Gut, dies war nicht das Ende der Welt. Sie atmete normal. Annisa musste nur heute wie gewöhnlich aus dem Haus gehen. Sie zog ihr dunkelblaues Kopftuch an, kombiniert mit einem Gesichtsschleier, dem Niqab, der ihr Gesicht bis auf die Augen und Augenbrauen verdeckte. Welch Glück, dass ich einen Niqab trage, dachte Annisa erleichtert.

Für einen Moment fokussierte Annisa sich auf die Dinge, die heute zu erledigen waren: die Schule, die von ihrer Familie betrieben wurde, besuchen und eine Versammlung mit den Lehrern abhalten. Sicherstellen, dass die Renovierung des Schulgebäudes sofort beginnen konnte, vor Beginn des Schuljahrs. Vielleicht würde sie auch an einem Treffen mit der Baufirma teilnehmen. Das wäre dann eine Sitzung nach der anderen. Danach hatte sie geplant, sich ein bisschen zu pflegen und in einen Schönheitssalon für Muslimas zu gehen. Aber das würde sie lieber absagen, sie wollte die Mitarbeiterinnen nicht mit ihrem Anblick erschrecken. Vielleicht würde sie anschließend lieber direkt in den Supermarkt gehen, um Lebensmittel einzukaufen.

In Gedanken versunken fuhr sie ihr Auto sehr langsam. Als sie das Schultor erreichte, begann ihr Herz laut zu schlagen. Sie fühlte sich nicht dazu bereit, in ihrem Zustand viele Menschen zu treffen. Sie wandte ihren Blick in den Rückspiegel und sah den Niqab, der ihr Gesicht verdeckte. Man sieht keinen Unterschied, sagte sie sich. Niemand wird bemerken, ob ich eine Nase habe oder nicht, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.

Drei mit Kopftüchern bekleidete Mädchen rannten zu ihrem Auto, als sie ausstieg. Die Schülerinnen begrüßten sie mit einem respektvollen Handkuss.

„Frau Nisa… Frau Nisa…“, riefen die Kinder. Weil sie ihr Auto genau kannten, begrüßten sie Annisa mit ihrem Namen, bevor sie sie sehen konnten.

Die Mädchen trugen einfache weiße Kopftücher, die ihr Gesicht frei ließen. Sie lächelten, während Annisas Hand einer nach der anderen den Kopf streichelte. Annisas Blick fiel auf ihre Nasen.

Annisa betrat den Versammlungsraum der Lehrer, wo sie schon erwartet wurde. Die Sitzung nahm ihren Lauf und hier gelang es Annisa ihre eigenen Probleme zu vergessen. Als die Gebetszeit kam, wurde Annisa wieder an ihre Probleme erinnert. Aber sie hatte einen speziellen sehr privaten Raum an der Schule. Dort konnte sie unbeschwert beten ohne zu befürchten, dass jemand einen Blick auf ihr unverhülltes Gesicht werfen konnte.

Trotzdem war sie nur mit halben Herzen bei ihrem Gebet, sie fühlte sich wie jemand, der sich versteckt, wie jemand, der Angst hat. Du musst stark sein, Nisa, du musst stark sein, sprach sie sich selbst Mut zu. So gestaltete Annisa ihren Tag, sie konzentrierte sich so gut wie möglich auf die Menschen, denen sie begegnete, und versuchte, für deren Probleme eine Lösung zu finden. Oft musste sie selbst die letzte Entscheidung treffen.

Diese Schule war damals von ihren Eltern gegründet worden, und Annisa war es wichtig für das Fortbestehen der Schule zu sorgen. Sie war dankbar, dass Razi damit einverstanden war, dass sie die Schule weiter führte. Razi unterstütze auch die Vision der Schule, eine gläubige junge Generation auszubilden, für die die religiöse Bildung wichtiger war als alles andere.

Das letzte das sie heute zu erledigen hatte, war der Besuch im Supermarkt. Das konnte ja nicht so schwer sein, dachte sie, wo ich diesen Tag schon bis hierhin gemeistert habe. Aber heute war es ihr besonders unangenehm unter den vielen Leuten. Annisa bemerkte einige Menschen, die sie mit neugierigen Blicken musterten. Das war bestimmt wegen ihres Niqabs.

Einen Gesichtsschleier zu tragen war in Jakarta nichts Gewöhnliches, obwohl sie durchaus nicht die Einzige war. Nach den drei Jahren, die sie den Niqab nun auf Wunsch ihres Ehemanns trug, war sie schon an die vorwitzigen Blicke gewohnt. Besonders wenn sie sich in einem Restaurant aufhielten, schauten noch mehr Menschen sie unverhohlen an, die wissen wollten, wie sie es bewerkstelligte, mit einem Gesichtsschleier zu essen. Anfangs hatte es sie gestört, aber dann gewöhnte sie sich daran und beachtete es nicht weiter.

Zu Beginn hatte Nisa Razis Bitte, ein Niqab zu tragen, abgelehnt, obwohl sie schon seit ihrer Jugend Kopftuch trug. Niqab zu tragen war doch noch etwas anderes. Aber laut Razi war es der richtigere, auf den religiösen Geboten basierende Weg.

„Man sollte den religiösen Weg Kaffah gehen, der sich auf alle Lebensbereiche bezieht, Ummi“, hatte Razi mit sanfter, liebevoller Stimme zu ihr gesagt. „Insbesondere weil du so eine schöne Frau bist. Auch wenn Du ein Kopftuch trägst, ist deine Schönheit noch deutlich sichtbar. Und ich bin oft auf Dienstreisen, besuche andere Orte. Da ist es mir nicht angenehm, wenn meine Frau die Blicke anderer Männer auf sich zieht“, ergänzte er sanft und strich ihr dabei übers Haar. Verhielt er sich ihr gegenüber auf diese Weise, schmolzen Nisas Einwände dahin. Razi zwang ihr nie seinen Willen auf, aber er schmeichelte ihr und erläuterte ihr, was er für richtig hielt und wie eine fromme Ehefrau sich verhalten sollte.

Schließlich, wenn auch ein wenig halbherzig, entsprach sie dem Wunsch ihres Ehemanns, einen Niqab zu tragen. Er hatte auch recht behalten, mit Niqab fühlte sie sich tatsächlich sicherer und geschützter vor den Blicken fremder Männer.

Doch Niqab zu tragen machte ihr manchmal das Leben auch schwerer. Ja, wie zum Beispiel beim Essen im öffentlichen Raum. Oder wegen des feucht-heißen Klimas in Jakarta. Oder wenn sie im Einkaufszentrum oder sonst irgendwo in der Öffentlichkeit Freunde traf. Annisa musste lauter rufen, wenn sie Freunde sah, die sie lange nicht getroffen hatte und die sie bestimmt nicht erkennen würden, weil ihr Gesicht verdeckt war.

Manchmal, wenn ihr die Energie dazu fehlte, entschied sie sich auch, an ihr vorbeigehende Freunde von früher nicht anzusprechen. Eigentlich machte es ja keinen Unterschied, sie würden es ohnehin nie erfahren. Trotzdem beschlich sie dann das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, insbesondere wenn es gute Freunde von früher betraf.

An jenem Tag zum Beispiel sah sie Arifin ganz deutlich, einen Mann, der ihr, puh, einmal sehr nahe gestanden hatte. Hm. Nahe, dieses Wort beschreibt ihr Verhältnis nur unzureichend. Treffender wäre zu sagen, dass sich Arifin für einige Zeit darum bemüht hatte, sie näher kennenzulernen und als Verlobte zu gewinnen, bis sie sich dann schließlich für Razi entschieden hatte.

Arifin stand nur wenige Meter von ihr entfernt, in der Obstabteilung des Supermarktes. Annisa spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Der Mann sah immer noch so gut aus wie in ihrer Erinnerung. Er war etwas fülliger geworden, nicht mehr so schlank wie damals als Student.

Sollte sie ihn ansprechen oder nicht? Ansprechen oder nicht. Annisa befand sich plötzlich in einem Dilemma. Sie sah weiterhin zu, wie Arifin mit der Hand Orangen auswählte, ohne zu bemerken, dass ihm ein Augenpaar mit aufgewühlter Brust dabei folgte.

So ist es halt für eine Frau, die Niqab trägt. Annisa erlebt es oft, dass die Entscheidung, ein Freundschaftsband weiterzuführen, in ihrer Hand lag. Sie konnte bestimmen, ob sie sich zu erkennen gab oder nicht. Trüge sie keinen Niqab, hätte sie Arifin auf die kurze Entfernung hin mit großer Wahrscheinlichkeit erkannt und zuerst angesprochen – so dass Annisa nicht ihren Stolz hätte überwinden müssen. Andererseits war der Gedanke, in der jetzigen Situation keinen Niqab zu tragen und einen Mann aus ihrer Vergangenheit zu treffen, auch nicht vorteilhaft.

Nicht, wenn sie keine Nase mehr hatte.

Jetzt oder nie. Annisa sprach sich Mut zu, um Arifin anzusprechen. Sie würde einen Gruß sagen und den Mann ansprechen, der sicher ihre Stimme erkennen würde. Und wenn auch nur für eine kurze Weile, würde Annisa sich mit ihm unterhalten und sehen wie er darauf reagierte, sie zu treffen.

„Brauchst du so lange? Komm, sonst verpassen wir den Anfang des Films…“, näherte sich eine Frau Arifin und strich ihm über den Rücken, in dem Moment, als Annisa auf ihn zugehen wollte.

Die Frau war hübsch, trug kein Kopftuch, wirkte wie eine junge berufstätige Frau, mit wohlgeformten Augenbrauen und leuchtend pinkem Lippenstift. Annisa gelang es gerade noch, einen Blick auf ihre kleine Nase zu werfen, die mit ihrem ovalen Gesicht harmonierte. Annisa wandte sich vom Anblick der beiden ab und schritt in Richtung Kasse. War sie seine Frau? Seine Partnerin? Der Körpersprache nach zu urteilen standen sie sich nahe. Die Frage, die sich mit aller Macht in ihren Kopf drängte, war die, wie es möglich war, dass Arifin sich mit einer Frau befreundet hatte oder gar mit ihr liiert war, die nicht zu ihrer Gruppe gehörte. Früher war Arifin einer der von vielen bewunderten Leiter ihrer Rezitationsgruppe gewesen, der die Ausdauer für lange Rezitationen besaß und voller Begeisterung war, die Religion zu verteidigen. Wie hatte er sich so schnell verändern können? Vielleicht weil er sie nicht hatte heiraten können?

Annisa war sehr aufgewühlt, als sie nach Hause zurückkam. Sie vermisste Razi, aber ihr Mann würde heute Abend noch nicht zurückkehren. Sie würde wieder allein schlafen müssen. Beim Abendgebet weinte sie bitterlich, fühlte sich leer.

Sie schickte ihrem Mann eine SMS: „Abi, ich habe Sehnsucht nach dir. Ich kann es nicht erwarten, bis du nach Hause kommst. Abi, wenn ich nicht mehr hübsch bin, wirst du mich dann immer noch lieben?“

Ihre Nachricht wurde nicht gelesen. Da wo ihr Mann arbeitete, gab es in der Tat oft kein Signal. Anisa holte tief Luft und versuchte zu schlafen. In ihrem Traum schien jemand eine Skizze von ihrem Gesicht zu malen, ihr welliges, ungeordnetes Haar. Ihr Haar, das sie sich auf den Wunsch ihres Mannes hin hatte lang wachsen lassen. Sie schien hinter dem Maler zu stehen und beobachtete, wie er das Gemälde von ihrem Gesicht vervollständigte und bewunderte ihre eigene Schönheit in dem Gemälde. In dem fast vollendeten Gemälde. Doch dann erschrak sie, denn plötzlich trug der Maler weiße Farbe auf ihre Nase auf, zerstörte das Bild von ihrem Gesicht.

„Nicht doch! Warum? Nein!“ Sie spürte, wie ihre Hand an der Schulter des Malers rüttelte. Doch der Maler ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Er steuerte mit seinem Pinsel auf den Mund des Bildes zu. So zerstörte er das eben noch schöne Gesicht immer mehr. Es blieben nur noch zwei schöne Augen übrig. Nun hielt der Maler seinen Pinsel genau über die Augen, als ob er gerade überlegte, abwartete, was ihm sein Herz sagen würde.

„Nein… nein…“, Annisa schüttelte den Maler erneut. In diesem Moment wachte sie auf. Sie hatte kein Zeitgefühl. War es noch Nacht? Begann der Morgen schon zu grauen? Hatte sie den Morgengebetsruf überhört?

Annisa fühlte die Überreste getrockneter Tränen auf ihren Wangen. Sie befühlte ihr Gesicht, zögernd und ängstlich. Sie ertastete den Ort, an dem sie bis vor Kurzem eine Nase gehabt hatte. Sie fühlte nichts. Ihre Finger bewegten sich langsam und wollten ihre Lippen berühren.

Es war als hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie konnte ihre Lippen nicht mehr fühlen. Sie bewegte ihren Mund und konnte ihren eigenen Atem aus dem verbliebenen Loch spüren. Aber sie fühlte ihre Lippen nicht mehr. Annisa fühlte sich völlig erschöpft. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft schleppte sie sich zum Spiegel.

Annisa sah ihr Gesicht, genauer gesagt das, was von ihrem Gesicht noch übrig war. Die Löcher ihrer früheren Nase, das Loch ihres früheren Mundes. Vom Weinen zugeschwollene Augen, durch die Augenlider verdeckt. Nur ihre schmalen Augenbrauen waren noch übrig. Niemand würde so ihr Gesicht erkennen können. Nicht mal sie selbst erkannte sich wieder. Annisa weinte immer heftiger.

Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, wurde Annisa sich dessen bewusst, das draußen noch viele Aufgaben auf sie warteten. Also nahm sie all ihre Kraft zusammen, legte Kopftuch und Niqab an. Ging aus dem Haus um ihren Tätigkeiten nachzugehen. Bevor sie ihr Auto startete, bekam sie eine SMS. „Ich liebe dich, was auch immer passieren mag. Pass gut auf dich auf. Der beste Schmuck ist eine fromme Frau. Und eine fromme Frau folgt den Worten ihres Ehemanns.“

Annisa holte tief Luft. Sie hoffte nur, dass sie immer noch der schönste Schmuck für ihren Mann war, obwohl sie ihr Gesicht schon verloren hatte und vielleicht noch mehr verlieren würde.

Quelle: Feby Indirani: Bukan Perawan Mary. pabrikultur

Übersetzung von Gudrun Ingratubun

© Feby Indirani, Gudrun Ingratubun