Der alte Chevrolet, in dessen Fond ich saß, verlangsamte seine Fahrt, bis er schließlich am Ende der Noordwijk-Straße vor einer Barrikade aus Bambusstangen zum Stehen kam. Nur einen Augenblick später tauchte, einem Albtraum gleich, von der linken Seite eines Gebäudes her eine Gruppe langhaariger Männer auf, die ihre Waffen auf uns gerichtet hielten. Sie trugen abgetragene, offenbar aus unterschiedlichen Armeebeständen stammende Uniformen und rotweiße Tücher um ihre Köpfe.
„Aufständische“, raunte Dullah, mein Fahrer, mir zu.
„Sie müssen unbedingt den Presseausweis sehen!“, flüsterte ich zurück.
Dullah deutete mit der Hand auf das an der Frontscheibe angebrachte Stück Papier. Einer der Männer, die allem Anschein nach die Straßenblockade errichtet hatten, schaute durchs Seitenfenster,
„Wohin gehts?“, fragte er mit bedrohlich funkelnden Augen. Er trug einen schwarzen Peci. Sein dichter Schnurrbart teilte sein Gesicht in eine obere und eine untere Hälfte.
„Freiheit, Herr! Wir sind auf dem Weg nach Gunung Sahari. Er ist Journalist. Er ist in Ordnung“, erwiderte Dullah mit einer Miene, mit der er größtmögliche Ruhe auszustrahlen versuchte, und deutete mit dem Daumen nach hinten auf mich.
„Steig aus, bevor du mit mir redest, Idiot!“, fuhr ihn der Schnurrbart an und schlug mit der flachen Hand auf die Motorhaube, dann setzte er hinzu: „Sag dem Weißen, er soll auch aussteigen!“
Eilig kamen Dullah und ich seinem Befehl nach. Mit Hilfe einiger seiner Kameraden durchsuchte uns der Schnurrbart von oben bis unten. Ein Päckchen Davros, aus dem ich erst eine einzige Zigarette geraucht hatte, wechselte sogleich hinüber in seine Hemdtasche. Ebenso wie ein Bündel Geldscheine in der japanischen Militärwährung aus meiner Brieftasche. Einer der Aufständischen stieg ins Auto, durchsuchte erst das Handschuhfach, setzte sich dann auf den Fahrersitz und drehte das Lenkrad hin und her wie ein kleines Kind.
„Martinus Witkerk. De Telegraaf“, las der Schnurrbart aus meinem Auftragsschreiben vor, dann wandte er sich zu mir: „Niederländer?“
„Er spricht kein Malaiisch, er stammt von dort“, schaltete sich Dullah ein. Das war natürlich eine Lüge.
„Ihn hab ich gefragt, nicht dich. Verflucht nochmal!“.
Der Anführer schlug Dullah ins Gesicht. „Deine Landsleute werden von Kugeln durchsiebt und sterben, und du machst bei den Kolonialisten mit. Los, verschwindet von hier! Haut bloß ab!“ Er gab mir meine Brieftasche zurück und steckte sich eine seiner erbeuteten Zigaretten an.
„Danke, Dullah“, sagte ich nach einer Weile, nachdem unser Wagen sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. „Ist alles in Ordnung?“
„Nichts passiert, Herr. Ein paar von diesen Männern sind eben so. Sie geben vor, Freiheitskämpfer zu sein, aber dann dringen sie einfach in die Häuser einfacher Leute ein und verlangen nach Essen und Geld. Und Frauen belästigen sie auch oft“, erklärte Dullah. „Zum Glück saß ich am Steuer.
Ich glaube, wenn Herr Schurck gefahren wäre, hätten Sie das beide nicht überlebt. Männer wie die von vorhin zögern nicht, Europäer zu töten, die leicht aus der Haut fahren wie Herr Schurck. Egal ob Journalist oder nicht.“
„Jan Schurck hat in der Tat ein Händchen dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen“, sagte ich nunmehr schmunzelnd.
„Das ist der Grund, warum ihm das Life-Magazin ein so hohes Gehalt zahlt.“
„Sind Sie sich bei der Adresse der jungen Dame sicher?“
„Ja, gegenüber dem Topografisch Bureau muss es sein. Sie wollte einfach nicht von dort weg. So ein Dickkopf.“
Der Dickkopf. Maria Geertruida Welwillend.
Geertje! Ja, so nannte man sie.
Ich war dieser Frau zum ersten Mal im Internierungslager Struiswijk begegnet, das war kurz nachdem bekannt gegeben wurde, dass die Japaner vor den Alliierten kapituliert hatten.
Vor unserer Begegnung hatte ich im Hotel Des Indes, das inzwischen wieder von Niederländern geführt wurde, mit ein paar der anderen Journalisten über die Niederlage Japans und deren Folgen für die Bevölkerung Niederländisch-Indiens diskutiert.
„Die Unabhängigkeitserklärung hat im Zusammenspiel mit der Reaktionslosigkeit der Gemeindeoberhäupter dazu geführt, dass die einheimische Jugend nicht mehr klaren Kopfes unterscheiden kann, was es heißt, „für die Freiheit zu kämpfen“ oder „kriminell zu sein“. Der ewig schwelende Hass gegenüber den Weißen und allen mutmaßlichen Kollaborateuren scheint sich plötzlich Bahn zu brechen in den verlassenen Straßen jener Wohnviertel, in denen vornehmlich Europäer leben und die unmittelbar an jene der Einheimischen grenzen“, sagte Jan Schurck und warf einen Stapel Fotos auf den Tisch.
„God Almachtig. Die Leichen sind ja kaum mehr als Hackfleisch“, stieß Hermanus Schrijven vom Utrechts Niewsblad aus und bekreuzigte sich, nachdem er einen Blick auf die Fotos geworfen hatte. „Es heißt, die Schlächter seien Rädelsführer oder Räuber, die man als Soldaten rekrutiert hat. Einen Teil ihrer Beute verteilen sie unter den Einwohnern. Aber das Meiste behalten sie selbst.“
„Patriotische Räuber“, erwiderte Jan schulterzuckend.
„Die gab es auch zu Zeiten der Französischen Revolution oder der bolschewistischen Revolutionen oder heutzutage auch unter den jugoslawischen Partisanen.“
„Bastarde der Revolution“, warf ich ein.
„Ich hasse den Krieg“, sagte Hermanus und schnippte seine Zigarettenkippe fort.
„Die Europäer hier sind sich der Gefahren nicht bewusst“, sagte ich. „Nach ihrer langen Leidenszeit in den Internierungslagern wollen sie nichts anderes mehr, als so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren. Sie ahnen nicht, dass sich ihre Diener und Hausjungen inzwischen in Freiheitskämpfer verwandelt haben.“
„Ich befürchte“, ergriff Eddy Taylor vom Manchester Guardian das Wort, „die meisten von ihnen haben noch gar nichts von dem Appell Lord Mountbattens gehört, so lange in den Lagern zu bleiben, bis die Alliierten eintreffen.“
„Ja, und die japanischen Kommandanten, die nach ihrer Niederlage jeglichen Lebensmut verloren haben, lassen die Gefangenen einfach laufen. Das ist das Beängstigende daran“, sagte Jan und zündete sich die x-te Zigarette an.
„Es könnte schlimmer sein. Am 15. September landeten die britischen Truppen in der Bucht von Batavia“, ich deutete auf die entsprechende Stelle auf der Landkarte, die auf dem Tisch vor uns ausgebreitet lag. „Ein niederländischer Kreuzer, der bei der Landung ebenfalls dabei war, so heißt es, habe hiesige Militärkreise in mächtige Aufruhr versetzt. In deren Augen scheint dies den Verdacht zu erhärten, die Niederländer wollten nach Niederländisch-Indien zurückkehren.“
„Well“, warf Eddy Taylor ein und sah abwechselnd zu Jan und zu mir. „Mal ganz unter uns, glaubt ihr daran, die Niederländer haben wirklich ein Interesse daran zurückzukommen?“
Unsere Diskussion wurde jäh unterbrochen, als Andrew Waller, Journalist des Sydney Morning Herald, der mit beachtlicher Ausdauer die Berichterstattung über die aktuellen Entwicklungen am Funkgerät verfolgt hatte, plötzlich ausrief: „Das ist ein Ding! Hört euch das an! Das ist höchst interessant! Ehemalige Soldaten der KNIL und britische Soldaten haben heute morgen damit begonnen, die Insassen der Internierungslager Cideng und Struiswijk zu verlegen.“
Ohne auch nur einen Augenblick Zeit zu verlieren, brachen wir alle miteinander auf. Jan und ich entschieden uns, das Internierungslager Struiswijk aufzusuchen.
Dort angekommen trafen wir den japanischen Kommandanten Major Adachi, der dem gesamten Unterfangen der Massenverlegung erleichtert entgegen sah.
„Unsere Patrouillen stoßen ständig auf die Leichen von Europäern, die aus dem Lager flohen. Am Straßenrand, verstümmelt und in Säcke gesteckt“, sagte er.
Ich nickte und machte mir Notizen. Tatsächlich aber haftete mein Blick an Geertje, die – mit einem Koffer in der Hand und seelenruhig – an uns vorüber spazierte. Sie ging allerdings nicht auf einen der bereitstehenden Lastwagen zu, sondern schlug die Richtung Drukkerwijweg ein, offenbar dazu entschlossen, dort eine Fahrradrikscha zu nehmen.
„Hei Martin!“ rief Jan Schurck mir zu. „Das Mädchen hat schon die ganze Zeit ein Auge auf dich geworfen. Schlag dein Glück nicht aus. Los, lauf ihr nach!“
Ich ging ihr tatsächlich nach, erlebte aber eine große Überraschung.
„Ich komme nicht mit“, sagte Geertje und blickte mich scharf an. „Ein paar Lastwagen fahren nach Bandung. Zu einem Aufnahmelager an der Ursulinen-Kapelle. Andere Lastwagen fahren nach Tanjung Priok. Aber ich muss nach Hause nach Gunung Sahari. Ich habe dort alle Hände voll zu tun“, erklärte sie.
„Willst du damit sagen, dass du in Gunung Sahari gelebt hast, bevor die Japaner kamen, und jetzt wieder dorthin zurückkehren willst?“, fragte ich.
„Was ist falsch daran?“, fragte Geertje zuruck.
„So einiges. Es ist der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort. Immer mehr Weiße, Chinesen und mutmaßliche Kollaborateure der Niederländer werden umgebracht. Wie kannst du dorthin zurückwollen?“
„Weil dort mein Zuhause ist. Und nun bitte ich um Entschuldigung“,
Geertje kehrte mir den Rücken zu und nahm ihren Koffer, den sie kurz abgestellt hatte, wieder auf.
Ich war sprachlos. In einiger Entfernung sah ich diesen Mistkerl von Jan, der mit dem Daumen nach unten zeigte. „So warte doch!“ Ich lief Geertje hinterher. „Ich begleite dich.“
Diesmal wies sie mich nicht ab. Und Jan erklärte sich glücklicherweise bereit, mir sein Motorrad auszuleihen.
„Nimm dich vor diesem jungen Herrn in acht, Nyonya“, sagte er augenzwinkernd zu Geertje. „In den Niederlanden warten zahllose Frauen schmachtend auf seine Rückkehr.“
„Ach, ist das so?“, gab sie zurück. „Aber nenn mich doch Nona oder einfach Geertje.“
„Wenn das so ist, nenn du mich doch einfach Jan.“
„Und das hier ist Martin“, sagte ich und klopfte mir gegen die Brust. „Willst du nicht endlich diese Holzschuhe aus dem Lager loswerden?“, fragte ich mit einem Blick auf Geertjes Füße. „Haben die Soldaten im Lager etwa keine Schuhe an Frauen und Kinder ausgegeben? Sie haben doch auch Lippenstifte und Puder verteilt. Ihr werdet bald alle wieder hübsch aussehen können.“
„Ich bin noch nicht wieder an Schuhe gewohnt, daher habe ich sie im Koffer verstaut. Im Lager konnte ich mit den Holzschuhen richtig gut laufen“, erwiderte Geertje lachend, während sie sich auf den Rücksitz des Motorrads setzte.
Mijn God. Ihr frisches Lachen und diese Grübchen in ihren Wangen. Und wie diese sich auf ausnehmende Weise mit ihren im leichten Winkel zueinander stehenden Augenbrauen verbanden. Ihr Gesicht gab mir Rätsel auf. Ob sie wohl noch Familie hatte? Einen Ehemann? Nein, letzteres konnte nicht sein, vorhin wollte sie Nona, „Fräulein“, genannt werden.
„Das Zehnte Bataillon patrouilliert zwar häufig in Gunung Sahari“, räumte ich ein. „Sie bewachen die Viertel der Europäer. Aber natürlich weiß niemand, wann mit einem Angriff zu rechnen ist. Denk nochmal über meinen Vorschlag nach.“ Ich konnte Geertjes Gesicht im Rückspiegel sehen. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch der Motor von Jans Motorrad dröhnte zu laut. Schließlich schwiegen wir die restliche Fahrt über.
An der Kreuzung Kwitang bog ich rechts ab, und so entfernten wir uns von der Kolonne der mit Frauen und Kindern beladenen Lastwagen. Ach, die Kinder. Ausgelassen klatschten sie in ihre Hände, sangen fröhliche Lieder. Sie ahnten nichts von dem so gut wie Unvermeidlichen, nämlich dass Hindia, das Land, in dem sie geboren worden waren, bald nur noch der Erinnerung angehören würde.
„Vor dem Fischteich da vorn ist es“, rief Geertje und schwenkte ihren Arm.
Ich fuhr an die Seite. Das recht große Haus war in erbärmlichem Zustand. Die Außenwände waren verschmutzt. Hier und dort waren Fensterscheiben zerborsten. Merkwürdig war jedoch, dass der Rasen im Hof erst vor Kurzem geschnitten worden zu sein schien.
„Warte!“, stieß ich aus und griff nach Geertjes Arm, als sie bereits im Begriff war, auf die Veranda zuzulaufen. Aus meiner Tasche auf dem Gepäckträger zog ich einen Dolch, den ich mir vorhin ebenfalls von Jan geborgt hatte. Ich stieß gegen die Vordertür. Sie war verschlossen.
„Willst du wirklich immer noch hinein?“, fragte ich Geertje.
„Ja“, war ihre Antwort. „Und steck deinen Dolch weg!
Lass mich anklopfen. Hoffentlich hat sich das Haus keine andere europäische Familie genommen.“
„Oder Aufständische“, gab ich zurück.
Geertje klopfte mehrere Male. Keine Antwort. Wir gingen um das Haus herum. Die Hintertüre stand einen Spalt weit offen. Wir wollten gerade eintreten, da hörten wir Schritte vom Garten her. Eine Einheimische von etwa fünfzig Jahren kam auf uns zu.
„Nona!“, rief sie aus, fiel auf die Knie und schlang ihre Arme um Geertjes Beine.
Geertje nahm sie bei den Schultern und hieß sie aufstehen.
„Die Japaner haben verloren. Ich komme wieder nach Hause, Iyah. Wo ist Ihr Mann? Haben Sie die ganze Zeit über hier gewohnt?“, fragte Geertje. „Das ist Herr Witkerk, ein Bekannter von mir. Martin, das ist Iyah, unsere Haushälterin.“
Iyah verneigte sich kurz vor mir und wandte sich dann wieder Geertje zu.
„Nachdem ich Sie das letzte Mal im Lager besuchte, haben die Japaner sich das Haus genommen. Offiziere wohnten hier. Ich habe für sie gekocht. Ich durfte nicht fortgehen. Deshalb habe ich Sie auch nicht mehr besuchen können.“
Iyah schluchzte abermals. „Wo ist Ihr Vater, Ihre Mutter, und der junge Herr Robert?“
„Mama ist im letzten Monat gestorben. Die Cholera.“.
Geertje schob die Tür weiter auf und trat ins Haus. Iyah und ich folgten ihr.
„Papa und Robert wurden nach Burma deportiert“, fuhr Geertje fort. „Ich habe schon den Lagerkommandanten darum gebeten, sich nach ihnen zu erkundigen.“
„Alles, was wertvoll war, hat man beschlagnahmt. Die Fotos an den Wanden wurden vernichtet und durch eine japanische Fahne ersetzt. Aber es ist noch nicht lange her, da sind sie plötzlich von hier fort. Ich weiß nicht wohin. Viel haben sie nicht mitgenommen“, erklärte Iyah. „Ich hole die Sachen zum Kochen aus dem Schuppen. Und ich hole meinen Mann hierher; denn als ich für die Japaner zu kochen anfing, bin ich in den Schuppen hinter dem Haus gezogen.
Auch als sie fort waren, habe ich mich nicht getraut, hier im Haus zu wohnen. Aber bei jeder Gelegenheit bin ich sofort hierher und habe, wo es nötig war, sauber gemacht.“
„Holen Sie Ihren Mann. Wir richten das Haus wieder her. Wenn die Banken wieder normal arbeiten, kann ich vielleicht etwas von meinem Sparbuch abheben.“ Geertje wartete, bis Iyah hinausgelaufen war, und setzte dann ihre Hausinspektion fort. Ein paar Tische und Stühle waren noch da, auch mehrere Schränke, diese waren allerdings leergeräumt. Im Wohnzimmer erwartete mich eine Überraschung: ein edles schwarzes Klavier. Erstaunlicherweise hatten es die Japaner weder beschlagnahmt noch zerstört. Vielleicht hatten sie es zu ihrer Unterhaltung genutzt.
Geertje blies über die dünne Staubschicht auf dem Deckel und öffnete ihn. Eine heitere Melodie erfüllte sogleich den Raum.
„Ist das ein Volkslied?“, fragte ich.
„‚Si Patoka’an‘“, sagte Geertje und nickte zustimmend, dann summte sie zu ihren Anschlägen der Tasten.
„Du bist wohl mit der ganzen Umgebung und den Leuten hier eng verbunden. Und sie scheinen dich ebenfalls zu mögen. Wahrscheinlich lieben sie dich von ganzem Herzen“, sagte ich. „Aber die Zeiten von Herr und Diener werden bald vorüber sein. Amerika zeigt immer deutlicher, wie sehr ihm der Kolonialismus missfällt. Die Welt hat begonnen, jeden noch so zarten Pulsschlag des Wandels, der hier zu verzeichnen ist, zu beobachten. Und unsere Jahrhunderte währende Präsenz als Herrscher über dieses Land oder vielmehr als nimmersatte Blutsauger macht unsere Verhandlungsposition nicht gerade besser. Ich denke, Niederländisch-Indien ist nicht mehr zurückzugewinnen, ganz gleich wie erbittert wir darum kämpfen, das Land den Händen der einheimischen Nationalisten zu entreißen.“
„Wenn das Feuer der Revolution einmal entfacht ist, kann es niemand mehr aufhalten“, Geertje hielt im Tastenschlag ihrer Finger inne. „Sie wollen einfach ihre Autonomie, wie mein Vater stets zu sagen pflegte. Mein Vater verehrte Henk Sneevliet. Er war bereit, seine Privilegien, die er hier genossen hatte, zu verlieren. Ich selbst bin Lehrerin an einer Schule für einheimische Kinder. Ich bin unter Einheimischen geboren und aufgewachsen. Als die Japaner an die Macht kamen, ist mir bewusst geworden, dass Niederländisch-Indien mit all seinem aristokratischen Gehabe an sein Ende gelangt ist. Ich muss den Mut aufbringen, dem Land Lebewohl zu sagen. Aber was auch immer das Schicksal letzten Endes für mich bereithalten mag, ich werde hier bleiben. Nicht als eine der „Herrschenden“, wie du es vorhin nanntest. Wer weiß, was ich sein werde. Die Japaner haben uns eine Lektion erteilt, wie bitter es ist, anderen zu dienen.
Nachdem wir früher all die Zeit im Wohlstand gelebt haben, wäre es da nicht beschämend, ausgerechnet dann die Flucht zu ergreifen, wenn die Menschen hier unseren Beistand benötigen?“
„Die Menschen…“, ich beendete den Satz nicht. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
„Es gibt diese Geschichte“, sagte ich endlich und schöpfte Atem. „Ein Jäger findet ein Tigerjunges, er zieht das Tier liebevoll auf. Es wird zahm. Es isst und schläft gemeinsam mit dem Jäger, bis es ausgewachsen ist. Es bekommt niemals Fleisch zu fressen. Eines Tages aber schneidet der Jäger sich am Futternapf des Tigers. Blut fließt von seiner Hand.“
„Der Tiger leckt von dem Blut, wird wild und fällt den Jäger an“, unterbrach mich Geertje. „Du versucht mir wohl damit zu sagen, dass mich eines Tages Einheimische hinterrücks erstechen werden. Ist es nicht so?“
„Wir befinden uns in Zeiten eines gewaltigen Umbruchs, er erfasst die ganze Welt“, erwiderte ich. „Ganze Wertegefüge verschieben sich. Nach Jahrhunderten wird uns jetzt bewusst, dass dieses Land nicht unser Vaterland ist. Zum dritten Mal bitte ich dich, geh von hier fort, solange du es noch kannst.“
„Soll ich etwa in die Niederlande?“ Geertje schloss den Klavierdeckel. „Ich weiß nicht einmal, wo dieses Land meiner Vorfahren überhaupt liegt.“
„In dem Ort, aus dem ich komme, in Zundert, gibt es ein paar Häuser zu erschwinglichen Mietpreisen. Dort könntest du wohnen, wenigstens solange du auf Neuigkeiten von deinem Vater wartest.“
„Danke“, sagte Geertje lächelnd. „Aber du weißt ja, wo ich leben will.“
So hatte Geertjes Antwort vor inzwischen mehreren Monaten gelautet. Ich sah sie danach noch zwei Male wieder. Das eine Mal setzten wir in ihrem Haus neue Fenster ein und das andere Mal begleitete ich sie zum Markt. Danach hatte ich mich in die Arbeit gestürzt. Auch Geertje schien mit nichts anderem beschäftigt zu sein als mit der Instandsetzung ihres Hauses. Da war kaum anzunehmen, dass sich zwischen uns auch nur ein Funke von Leidenschaft entfachen würde.
Dann kam die seit langem befürchtete Meldung über die bewaffneten Kämpfe in der vergangenen Nacht. Diese weiteten sich auf mehrere Stadtviertel Batavias, von Meester Cornelis bis nach Kramat, aus. Einheiten von jungen Aufständischen hatten in einer konzertierten Aktion eine flächendeckende Offensive in verschiedenen Vierteln unternommen.
In der Nähe von Senen-Gunung Sahari war es ihnen gelungen, einen Panzer der NICA fahruntüchtig zu machen. Ich machte mir große Sorgen um Geertje. Am besten würde es sein, sie aus ihrem Haus zu holen. Sie konnte vorerst bei uns wohnen. Ich hoffte nur, diesmal würde sie nicht ablehnen. Schurck war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Stadt, daher konnte ich mir sein Motorrad nicht ausleihen.
Zum Glück war jemand vom Hotel bereit, mir, wenn auch völlig überteuert, ein Auto mit Fahrer zu vermieten.
„Ist es das Haus dort vorne?“, erklang Dullahs Stimme und holte mich zurück in das heiße Wageninnere des Chevrolets.
„Richtig. Warte hier!“, beunruhigt sprang ich aus dem Wagen.
Vor Geertjes Haus standen ein paar NICA-Soldaten in Bereitschaft. Einige andere marschierten im Hinterhof des Hauses auf und ab. Die Veranda war beschädigt. Die Vordertür lag auf dem Boden, von Kugeln durchsiebt. In Fußboden und Wänden klafften schwarz umränderte Löcher, – eine Granate musste hier detoniert sein.
„Entschuldigung, ich bin Journalist!“, rief ich und hielt, während ich mir einen Weg durch die Menge hindurch bahnte, meinen Presseausweis in die Höhe. Ich blickte mich aufmerksam um. Mit gemischten Gefühlen betrat ich jedes Zimmer, als erwartete ich, jeden Augenblick Geertjes Leiche in einer Blutlache liegend vorzufinden. Dieser schreckliche Anblick blieb mir erspart. Ein Soldat kam auf mich zu, er schien der Kommandant zu sein. Ich hielt ihm meinen Ausweis entgegen.
„Was ist hier passiert, Sergeant… Zwart?“, fragte ich ihn und las den Namen vom Aufnäher an seiner Uniform ab.
„Ist das bei einem der Angriffe in der letzten Nacht passiert? Wo sind die Bewohner dieses Hauses?“
„Wir waren das, wir haben das Haus gestürmt. Seine Bewohner sind geflohen. Sind Sie Journalist? So ein günstiger Zufall. Wir werden die Nachricht von dieser Sache verbreiten, als Warnung an alle.“ Sergeant Zwart forderte mich auf, ihm in die Küche zu folgen. „Hier haben sich die Aufständischen getroffen“, erklärte er. „Hier fand sich jede Menge Propagandamaterial, das sich gegen NICA richtet.“
„Entschuldigen Sie, soweit ich weiß, gehört das Haus einer Niederländerin, Nona Geertje.“
„Sie kennen sie? In diesem Fall werden wir einige Fragen an Sie haben. Es besteht der Verdacht, dass Nona Geertje die Seiten gewechselt hat. Ihre möglichen Aliasnamen „Zamrud Khatulistiwa“ (Smaragd des Aquators) oder „Ibu Pertiwi“ (Mutterland), die wir in letzter Zeit immer wieder im Funkverkehr des Untergrunds aufgegriffen haben, lassen sich vermutlich ihr zuordnen.“
Geertje? Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich wollte widersprechen. Sergeant Zwart aber war bereits damit beschäftigt, eine große, in der Erde neben dem Schuppen eingelassene Türe anzuheben und sie zu öffnen. Ein Bunker.
Bei meinen Besuchen bei Geertje hatte sich dieser Zugang meiner Aufmerksamkeit völlig entzogen. Ich folgte Sergeant Zwart die Stufen hinab.
An sich war ein solcher Bunker nichts Außergewöhnliches. Nicht selten besaßen wohlhabende Niederländer einen gesonderten Raum, in dem sie Schutz vor allem bei Luftangriffen suchten. Dieser Raum hier war etwa vier Quadrat-meter groß und feucht. Darin standen ein langer Tisch, ein paar Stuhle sowie ein schäbiger Schrank gefüllt mit Kochgeschirr und einigen Stapeln Papier. Und tatsächlich, das Papier enthielt Anti-NICA-Propaganda.
Sergeant Zwart schob eine Abdeckung aus Stoff von einem Objekt, das hinter dem Schrank stand. Ein Funksender! „Eine Hinterlassenschaft der Japaner“, erklärte er.
Ich war sprachlos. Ich konnte das alles nicht glauben. Doch was mir wirklich das Blut in den Adern gefrieren ließ, war der Anblick an der Wand zu meiner Linken. An dieser mit Schimmel überzogenen Wand war eine Kombination aus Waschbecken und Spiegel angebracht. Auf der Oberfläche des Spiegelglases war mit einem Lippenstift und offenbar in Eile eine Zeile geschrieben worden: „Lebewohl, Hindia! Willkommen Republik Indonesien!“
Ich stellte mir Geertje mit ihren Grübchen vor, wie sie inmitten eines Reisfeldes saß und gemeinsam mit den Menschen, die sie liebte, sang: „Dies ist mein Land. Dies ist mein Haus. Was immer das Schicksal für mich bereit hält, ich werde bleiben.“
Von Anfang an hatte Geertje gewusst, wo sie zu stehen hatte. Langsam löschte ich das Wort „Verräter“ aus meinen Gedanken, das sich darin vorhin kurz niedergelassen hatte.
Jakarta, 12. Oktober 2012
aus: Iksaka Banu: Alles für Hindia! Gossenberg, Ostasien-Verlag 2020.
© Ostasien-Verlag, Iksaka Banu, Sabine Müller