Zwei
Der Tiger war weiß wie ein Schwan und zugleich scharf und mitleidslos wie ein Rothund. Mameh hatte ihn einmal für einen kurzen Augenblick gesehen, wie er, einem Schatten gleich, Margios Körper verließ. Davor und auch danach hatte sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Aber es gab ein Anzeichen, das sie wissen ließ, dass der Tiger noch in ihm war. Mameh kannte es gut, aber sie wusste nicht, ob andere Leute es auch sahen. Erkennbar war es nur in der Dunkelheit, wenn Margios Augen plötzlich katzengelb aufblitzten. Anfänglich hatte Mameh vor diesen Augen Angst, und noch mehr fürchtete sie, dass der Tiger nach draußen springen würde, aber mit der Zeit legte sich diese Furcht, und weil sie zu oft schon dieses in der Dunkelheit aufleuchtende Augenpaar gesehen hatte, war ihr nicht mehr bang. Er war kein Feind, der sie verletzen würde, im Gegenteil, der Tiger war wahrscheinlich da, um sie zu beschützen.
Margio selbst war ihm zum ersten Mal an einem Morgen begegnet; das war vor einigen Wochen gewesen, noch bevor er von zuhause fortgegangen war. Er hatte als einziger im Gebetshaus übernachtet, und als er am Morgen aufgewacht war, hatte kein Tablett mit dampfend heißem Kaffee neben ihm gestanden oder gar ein Teller mit Frühstücksreis – nein, vielmehr hatte neben ihm ein weißer Tiger gelegen, der sich die Pranken leckte. Margio war aufgewacht, weil dessen Schwanz vergnügt hin und her wippte und dabei seine nackten Füße traf, ganz so, wie wenn ihm Ma Soma mit der Hand leicht auf die Füße klopfte, um ihn für das Frühgebet zu wecken. Aber draußen war es schon hell gewesen, und der Regen hatte der Welt ein tiefgraues Gesicht gegeben – offenbar hatte es in der Nacht so stark gegossen, dass kein Mensch in der Morgendämmerung das Gebetshaus aufgesucht hatte. Natürlich hatte Margio sich ziemlich erschreckt, der Anblick hatte ihn so überwältigt, dass er nur still innehalten und voll Verwunderung auf dieses mit sich selbst beschäftigte mächtige Tier starren konnte.
Er wusste, dass das Tier nicht wirklich lebte. Während der zwanzig Jahre, die er jetzt schon auf Erden war, hatte er schon so häufig den Urwald am Rande der Stadt durchquert, aber noch nie war ihm solch ein Tier begegnet. Da gab es kleine Baumleoparden, Wildschweine und Rothunde, aber nie einen weißen Tiger fast so groß wie ein Rind. Er erinnerte ihn an seinen Großvater vor vielen Jahren. Ihm traten Tränen in die Augen, und er streckte ganz langsam seine Hand aus, um die vordere Pranke des Tigers kurz zu berühren. Sie lag tatsächlich als ein greifbares Ding da, mit einem Fell so weich wie ein Staubbesen, die Krallen eingezogen wohl als Freundschaftsangebot. Nun hatte er die zweite Pranke leicht angehoben, und Margio streckte erneut seine Hand aus, worauf der Tiger seine Pfote hin und her bewegte, wie ein junges Kätzchen, das spielen will. Margio versuchte geschickt zuzugreifen, aber der Tiger rollte sich auf den Rücken und wich aus, stellte sich unerwartet auf die Hinterbeine zum Angriff bereit, und bevor Margio sich in Sicherheit bringen konnte, stürzte er sich auf ihn, warf ihn zu Boden und rollte sich dort mit ihm, ließ dann aber von ihm ab, da Margio dem Gewicht nicht gewachsen war. Margio blieb liegen, der Tiger setzte sich neben ihn und putzte wieder seine Pranken. Da klopfte Margio ihm zart auf die Schulter und sagte:
„Großvater?“
Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke aus: Eka Kurniawan: Tigermann. OSTASIEN Verlag (Reihe Phönixfelder 30), Gossenberg, 2015, (ISBN: 978–3-940527-92-9)
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