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Faisal Oddang: Warum beten sie zu einem Baum?

Ich habe mich in einen Baum verwandelt. Die Menschen in meinem Dorf glauben daran, auch wenn sie dies wortreich verteidigen müssen, bis sie Schaum vor dem Mund haben. Seit 1947 glauben sie daran. Der Tamarindenbaum ist inzwischen schon groß und er wird immer älter. Inzwischen braucht man ungefähr fünf erwachsene Männer, um den Baumstamm zu umfassen. Fast jeden Tag drängen sich die Menschen an diesen Baum, sprechen unterschiedlichste Gebete, wobei sie verschiedenfarbige Stoffe um den Baum binden und geloben, sie erst dann wieder zu lösen, wenn sich ihr Gebet erfüllt hat. Also wundert euch nicht, wenn um die Zweige, die Äste, den Stamm – ich glaube ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass um jeden Teil des Baumes ein Stück Stoff gewickelt ist. Es gibt so viele Gebete dort. Um meinen Körper zu schützen, verläuft eine brusthohe moosfarbene Mauer um mich herum. Die Betenden haben sie gebaut.

Aber als der Krieg 1947 erneut ausbrach, gab es den Tamarindenbaum noch nicht. Es spielte sich ungefähr folgendes ab: Wir wurden wie Wasserbüffel zusammengetrieben. Unsere Finger waren mit Stricken aus Padanusbläattern zusammengebunden. Die holländischen Gewehrläufe gaben uns die Richtung an – und mehrmals wurden unsere Schritte noch schneller durch Kolbenhiebe in den Nacken oder ins Schienenbein. Wir wussten, dass nur noch wenig Zeit blieb, bis unsere Leben eins nach dem anderen ausgelöscht werden würden.

***

Der Dezember 1946 hatte gerade begonnen, als mich in der Musholla, dem Ort an dem ich Kindern Koranunterricht gab, eine Nachricht erreichte. Ich gab Rahing ein Zeichen. „Die Kinder sollen es nicht hören“, sagte ich mit gedämpfter Stimme, während ich aufstand und gefolgt von Rahing in den hinteren Teil der Mosholla ging. Ich bat die Kinder, selbständig weiterzulesen. „Ich komme bald zurück“, versprach ich ihnen.

„Sie sind bereits in Makassar”, noch nie hatte Rahings Stimme so angsterfüllt geklungen, „Truppennachschub, viele weitere Truppen”, ergänzte er mit zitternder Stimme.

„Halten wir uns bereit”, sagte ich, bemüht meine Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl mein Herz heftig pochte, in meinem Herzen ein Sturm tobte. Aus Makassar hatte ich gehört, dass sie die Widerstandszentren in Süd-Sulawesi wieder unter ihre Kontrolle bringen wollten. Diese Meldung war schon vor einigen Wochen zu mir gedrungen, vor Rahings Nachricht über die Ankunft der Spezialtruppen, Depot Speciale Troepen—DST, KNIL, die sich bereits auf dem Weg in unser Dorf befanden, nach Bacukikki, dem Herzen des Landkreises Parepare.

Mit Rahing und mit den anderen Andi-Makassau-Kämpfern hatte ich vor der Unabhängigkeit zusammen gekämpft – und nachdem wir bereits alles erreicht hatten, kehrten diese gottverfluchten Kolonisten zurück. Bevor Rahing ging, fragte er noch nach unseren Aktivitäten in der Musholla, wie es den Kindern ginge und er beklagte, wie anstrengend es für ihn wäre, die Bewohner immer wieder in die Verstecke im Wald zu führen und wieder zurück ins Dorf. Ich klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und sagte: „So Gott will, wird alles gut!“

“Ich mache mich auf den Weg. Assalamualaikum, Ustad.“

Ich erwiderte den Abschiedsgruß und beeilte mich, mein Versprechen gegenüber den Kindern zu erfüllen. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Kinder das arabische Alphabet auf buginesisch buchstabieren. Dies erwärmte mein Herz: yase’na lefue nakkeda a, yase’na lefue mallefa nakkeda aaa…. Meine Gedanken gingen zu meinem vor Kurzem getöteten fünfjährigen Sohn – und ich konnte nicht verhindern, dass Tränen über meine Wangen liefen.

***

Rahings Nachricht wurde von einem Kämpfer zum nächsten weitergegeben. So wie das Zischen der Gewehrkugeln vor ein paar Jahren hatte das Eintreffen von Trauernachrichten aus Makassar kein Ende nehmen wollen. Die erste Nachricht kam aus Borong und Batua, beides Orte, von denen wir glaubten, dass die Guerilleros dort sicheren Unterschlupf hatten, und noch andere schwer erklärliche Gerüchte waren im Umlauf. Dann folgten weitere Regionen, Gowa und Takalar. Diese Hiobsbotschaften erreichten uns, jedoch ohne die genaue Anzahl der Toten zu nennen. „Nicht mehr lange und sie werden hier sein“, berichtete eines Abends einer unserer Kämpfer in der Musholla, als es schon keine Koran-Rezitationsübungen mehr gab, nachdem ein Rundschreiben der niederländischen Regierung das Kriegsrecht ausgerufen hatte.

„Kinder, ich werde euch Bescheid sagen, wenn wir wieder beginnen den Koran zu rezitieren. Jetzt habt ihr erst mal frei. Übt zu Hause weiter…”

Ich hatte Angst um sie und meine Sorge wuchs von Tag zu Tag. Wie ein Seemann, der immerzu fürchtet, in einen Wirbelsturm zu geraten. Fast jeden Abend kamen wir zu Lagebesprechungen zusammen, vom Nachtgebet bis zum Morgengebet. Eigentlich handelte es sich nicht vordringlich um Lagebesprechungen sondern um eine Art Nachtwache. Als Leiter der Bacukikki-Krieger, die den Andi-Makassau-Kriegern unterstellt waren, als Zentrum des Widerstands der Bevölkerung von Parepare, stellte ich den Versammlungsort zur Verfügung und leitete die Sitzungen. Das war auch der Grund, warum ich die Kinder gebeten hatte, zuhause den Koran zu rezitieren, abgesehen davon, dass ich sie auch nicht in Gefahr bringen wollte.

„Wir müssen realistisch sein, Ustad.”

Eine lange Stille. Sogar den Windzug meines eigenen Atems konnte ich hören. Niemand fragte, was Rahing mit realistisch gemeint hatte. Doch dann gab Rahing selbst die Erklärung, ohne dass ihn jemand darum gebeten hätte.

„Wir sind zahlenmäßig unterlegen, waffenmäßig unterlegen, insgesamt unterlegen…”

Es war nicht zu übersehen, Rahing konnte seine große Sorge nicht verbergen. Er hatte vor Kurzem geheiratet. Ich selbst hatte die Trauung vollzogen. Ich wusste, dass er nicht nur um sich selbst Angst hatte. Auch um seine Frau – und wahrscheinlich auch um ein ungeborenes Kind. Deswegen schwieg ich, nickte ab und zu, als ob ich schläfrig sei.

Die Schatten des Kampfes vor der Unabhängigkeit, der Schatten meiner Frau Fatimah, meines fünfjährigen Sohnes Akbar und andere Erinnerungen röteten meine Augen. Akbars Schrei um Hilfe, Fatimas Schrei Allahu Akbar, und der zweite Schrei, nachdem eine Granate unser Stelzenhaus an jenem Abend zerstört hatte. Man hatte mich beschuldigt, die Kinder zu Rebellen auszubilden, nur weil ich sie in Koran-Rezitation unterrichtete, aber nachdem ich alles verloren hatte, war ich entschlossen selbst ein Guerilla-Kämpfer zu werden, die Kämpfer anzuführen und die Unabhängigkeit zu verteidigen. Als ich das Gefühl hatte, dass alles vorbei war, hatte ich die Kinder wieder versammelt, sie hatten wieder die Silben „alif-ba-ta“ aufgesagt. Doch wieder mussten wir aufhören.

***

Mitte Januar, einen Monat nach Rahings Meldung, waren sie auf dem Vormarsch zu unserem Dorf. Die Regenzeit hatte gerade begonnen, aber niemand wagte es das Reisfeld zu bestellen. Alle hatten Angst. Aber ein paar Leute nahmen doch ihren Mut zusammen, darunter auch ich.

Die Sonne geht einzig und allein am Horizont unter, und das Leben wird nur durch den Tod beendet. Unzählige Male versicherte ich mich meiner selbst im Spiegel, sah nach, ob mir vielleicht irgendein Körperteil fehlte. Alles war vollständig. So machen sich die Bugis-Leute Mut, bevor sie in den Krieg ziehen. Mein Bart wuchs dicht, stellenweise schon grau. Auch auf meinem Kopf zeigten sich ein paar graue Haare, nicht ungewöhnlich für einen Mann in den Fünfzigern. Meine Augen hatten einen todtraurigen Ausdruck und meine Wangenknochen zeichneten sich immer deutlicher ab. An meiner Schläfe war eine große Verletzung zu sehen, eine Narbe von einem Granatsplitter jener Nacht.

Ya Hayyu, Ya Qayyum – oh Allmächtiger, Allgegenwärtiger, sagte ich in meinem Herzen immer wieder, bis ich mich wirklich bereit fühlte. Obwohl ich immer wieder Verschnaufpausen einlegen musste, wegen meines sich verschlimmernden Hustens mit blutigem Auswurf. Es wird erzählt, dass Muhammad dies auch immer wieder gesagt habe, während seiner schlaflosen Nächte im Badar Krieg, als er auf die Quraisy wartete.

Es wurde heftig an der Tür geklopft, von jemandem, der es eilig zu haben schien. Tatsächlich, als ich öffnete, sah ich in Rahings bleiches Gesicht. Er stammelte, dass der türkische Schlächter schon an der Grenze stände und die Kämpfer versuchten, ihn aufzuhalten. Er fuhr fort: „Ich muss erst meine Frau in Sicherheit bringen. Es tut mir leid, Ustad. Ich spürte augenblicklich Wut in mir hochkochen. Was für ein Egoist! Doch dann stellte sich meine eigene Erfahrung meinem Zorn entgegen. Ich wollte nicht, dass Rahing dieselbe schmerzhafte Erfahrung wie ich machen musste.

„Wenn Du das erledigt hast, schließe dich uns an”, sagte ich fast schreiend, seinen eiligen Schritten folgend. Ich marschierte mit ungefähr 20 Bacukikki-Kämpfern in Richtung Landkreisgrenze, in strömendem Regen, der seit gestern Nachmittag ununterbrochen niederprasselte. Doch wie ein machtloser Tod hatten wir den Einmarsch der holländischen Soldaten eingeschätzt. Die Situation stellte sich völlig anders dar, die Verteidigung an der Grenze war schon überwunden, wir waren sofort unter Druck, sahen uns gezwungen, in den Häusern der Dorfbewohner Zuflucht zu suchen. Ich bereute diese Entscheidung. Die Menschen, die uns Schutz gewährt hatten, wurden nun ebenfalls auf den Dorfplatz getrieben, als sich der Nachmittag dem Ende neigte. Egal ob Mann oder Frau, ob jung oder alt.

In einer langen Reihe knieten wir auf dem Boden, die Hände nach hinten gebunden. Hunderte von Menschen, ohne die Möglichkeit zu entkommen, geschweige denn Widerstand zu leisten. Meine Brust war wie ein Feuer, das alles sehr bewusst wahrnahm. Ein Mann, scheinbar der Anführer der DST, näherte sich der Menschenansammlung. Er sah uns einen nach dem anderen in der Dämmerung eindringlich an. Wen er wohl suchte, fragte ich mich. Sein Blick war kalt. Er war anders als die Anderen, die uns auslachten und verhöhnten. Sein Gesicht war fast ausdruckslos. Vielleicht…vielleicht war er der, den Rahing als türkischen Schlächter  bezeichnet hatte. Der gottverfluchte Westerling? Meine Brust wurde immer heißer. Ich fühlte mich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, gebrochenem Schnabel. Immer noch inspizierte er schweigend unsere Gesichter der Reihe nach. In der Hand trug er eine Browning P-35, mit deren Spitze er ein Kinn anhob, wenn jemand nach unten guckte. Plötzlich löste sich ein Pistolenschuss. Der Schall betäubte meine Ohren und der Gestank von Schießpulver erfüllte die Luft. Ein Frauenkörper fiel vor mir zu Boden.

„Sie ist die Frau eines Rebellen!“, schnappte ich aus seinem gebrochenen, verzerrten Indonesisch auf. Es entstand ein Durcheinander, ein paar Leute versuchten zu fliehen, wenig später fielen ihre Körper zu Boden und ihr Blut vermischte sich mit Regenwasser. Dutzende Seelen wurden augenblicklich ausgelöscht, in weniger als fünf Minuten. Als die DST-Truppen die Situation wieder unter Kontrolle hatten, wurde die Untersuchung fortgesetzt und ihre Gewehre beförderten noch mehr unschuldige Körper in den Tod. Im Laufe der Nacht wurde der Regen immer heftiger. Es blitzte einige Male und ein Sturm kam auf. Einige der DST-Truppen konnten dies nicht mehr aushalten und es entstand wieder Unruhe. In der Dunkelheit schossen sie nun ohne Mitgefühl auf uns. Schreien und Stöhnen wechselten einander ab, der metallene Geruch von Blut mischte sich mit dem von Schießpulver. Am folgenden Tag ließ der Regen nach. Hunderte Leichen lagen verstreut auf dem Dorfplatz, nur mein Körper nicht. Der war verschwunden. Für die Leute von Bacukikki bin ich nun heilig.

***

„So war das Leben Ustad Syamsuris. Wie ein Tamarindenbaum. Seine Früchte werden als Gewürz beim Kochen benutzt, seine Blätter als Gemüse, seine Äste als Feuerholz und sein Stamm kann zu Brettern oder zu einem Hauspfosten werden.“

Unter Tränen erzählte Rahing dies den Menschen, die sich auf dem Platz versammelt hatten, den Tamarindenbaum betrachteten, der einige Wochen nachdem die DST-Truppen Parepare verlassen hatten, dort gewachsen war.

„Am meisten schätze ich an einem Menschen, wenn er seinen Mitmenschen hilft“, fuhr Rahing schluchzend fort. „Die Seele von Ustad Syamsuri hat sich hier auf dem Platz in einen Tamarindenbaum verwandelt, ein Baum der sehr hilfreich und nützlich ist. Sein Körper ist zum Himmel aufgestiegen. Ich bereue es, nicht mit ihm zusammen ein Märtyrer geworden zu sein. Lasst uns für ihn beten. Al-Fātiḥa!“

Seit diesem Tag kamen die Leute häufig hierher und beteten am Tamarindenbaum, bis zum heutigen Tag – Jahrzehnte später. Tatsächlich war es mir gelungen zu entkommen und im Landkreis Wajo Zuflucht zu finden. Dort erlag ich meiner Tuberkulose. Ich starb einige Zeit nachdem General Simon Spoor, der Leiter des niederländischen Angriffs, das Kriegsrecht in Süd-Sulawesi im Februar 1947 aufgehoben hatte.

Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus: Faisal Oddang: Sawerigading Datang dari Laut. DIVA Press, Januar 2019.

© Faisal Oddang, Gudrun Ingratubun

Yusi Avianto Pareanom: Der Tod des Anwar Sadat in Cempaka Putih

Anwar Sadat starb an dem Tag, an dem er erstmals einen Fuß nach Jakarta setzte. Er kam aus Semarang. Sein Alter an diesem Unglückstag war 28 Jahre.

Anwars Vater hatte ihn nach dem ägyptischen Präsidenten Muhammad Anwar El Sadat benannt. Er hatte einen Grund dafür gehabt, diesen Namen zu wählen und nicht Gamal Abdul Nasser oder Husni Mubarak. Eine Woche bevor der Anwar aus Semarang geboren wurde, war der andere Anwar Sadat, der Präsident war, von seinen eigenen Soldaten erschossen worden. Den Nachrichten zufolge hätte dies eigentlich vermieden werden können, wenn Anwar Sadat bereit gewesen wäre, eine kugelsichere Weste zu tragen, wie von seinen Beratern empfohlen. Der Präsident lehnte ab, weil seiner Meinung nach nur Feiglinge so etwas trugen.

„Er war wirklich ein tapferer Mann“, sagte der Vater von Anwar aus Semarang voller
Bewunderung.

Als sein Sohn geboren wurde, wählte er darum sofort diesen Namen, um ihm Ehre zu erweisen. Er verwarf all die für sein Dorf ohnehin zu großen Namen, die er längere Zeit geplant hatte: Franz, Johan, Mario und Diego Armando.

Die Hoffnungen seines Vaters verfehlend wuchs Anwar Sadat aus Semarang nicht zu so einem Helden heran wie der Präsident mit dem unglücklichen Schicksal. Sein Verhalten war sehr fein, wofür er oft von seinen Freunden verspottet wurde. Was sie auch spielten, er war immer der Außenseiter.

Als er zehn Jahre alt war, nahmen ihn seine Eltern mit dem Zug nach Surabaya mit. Die ganze Fahrt lang war er leichenblass. Seine Eltern glaubten, ihm sei schlecht, weil er noch nichts gegessen hatte. In Wirklichkeit aber fühlte Anwar, wie seine Seele jedes Mal fast davonflog, wenn der Zug über eine Brücke fuhr. Vor der Heimreise
quengelte Anwar ununterbrochen, dass sie doch den Bus nehmen sollten.

Anwar litt an einer Form von Gephyrophobie – der Angst vor dem Überqueren von Brücken aus der Befürchtung, dass diese Bauwerke einstürzen könnten. Normale Brücken machten ihm keine Angst, aber Eisenbahnbrücken nahmen ihm wirklich
jeden Mut. Die Unwissenheit Anwars oder seiner Eltern über den Namen dieses Leidens konnte das Zittern nicht verringern, dass ihn bei jedem Anblick einer Eisenbahnbrücke überkam. Anwars Leiden wurde stärker, weil er auch an etlichen weiteren chronischen Ängsten litt, von allgemeinen wie Hämophobie oder der Angst vor Blut, Iatrophobie oder der Angst vor Ärzten, Klaustrophobie oder der Angst vor engen Räumen bis hin zu den etwas selteneren wie Ombrophobie, der Angst vor
Regentropfen. Aber wenigstens, wenn man das so sagen darf, litt Anwar nicht an Optophobie, der Angst vor dem Öffnen der Augen, einem Leiden, welches die Betroffenen sich möglicherweise selbst ihre Augen auskratzen oder ausstechen lässt, ob nun mit der bloßen Hand, einem Nagel oder einer Salatgabel.

All diese Ängste ließen Anwar zweifellos lieber zuhause bleiben und kaum jemals die Stadt verlassen. Er war zufrieden damit, als Bewacher des kleinen Ladens seines Vaters zu arbeiten.

Einige Wochen vor Anwars Tod erhielt sein Vater einen Anruf von einem Verwandten in Jakarta. Dieser sagte, da gäbe es eine junge Frau, 24 Jahre alt, eine kinderlose Witwe, die gut zu Anwar passen würde, der ja noch Junggeselle sei. „Sie ist ein gutes Kind, hellhäutig, still, sparsam, pflegt den Garten, strickt gerne, kann gut kochen, kennt sogar die Koransure Yaasin auswendig”, sagte der Verwandte von Anwars Vater anpreisend.

Anwars Vater war hocherfreut, Anwars Mutter noch viel mehr. Man bat Anwar, nach Jakarta zu fahren. Erst mal nur zum Kennenlernen, falls es dann so halbwegs passte, konnte die Verbindung vertieft werden. Und wenn es so halbwegs nicht passte, dann war es zumindest schon mal eine Freundschaft.

Anwar befolgte brav die Anweisung seiner Eltern und brach nach Jakarta auf. Eigentlich hatte er Angst davor, so ganz alleine zu reisen. Aber er hätte sich geschämt, als Angsthase zu gelten, und es freute ihn, sich eine Lebenspartnerin vorzustellen. In der Nacht vor der Abreise konnte er vor Unsicherheit und Vorfreude nicht schlafen. Als Anwar schließlich mit dem ersten morgendlichen Bus aufbrach, litt
er darum unter einer bleischweren Müdigkeit. Dummerweise konnte er diese Müdigkeit nicht einfach mit Schlaf bekämpfen, weil er sich sorgte, was auf der Reise alles passieren könnte.

Nachmittags um halb drei kam Anwar am Busterminal Pulogadung an. Wie ihm beschrieben worden war, nahm er dann den Metromini-Bus Richtung Senen. Das Haus seiner Verwandten war in Kramat. Im Metromini konnte er gegen seinen Willen die Müdigkeit nicht mehr zurückhalten. Er wachte erst davon wieder auf, dass ihn jemand an der Schulter schüttelte und sagte: „Aussteigen, wir müssen den Metromini da vorne nehmen.” Sie waren in Cempaka Putih.

Völlig gerädert stieg Anwar hastig aus. Der Ruf eines Metromini-Schaffners zehn Meter weiter machte ihn noch unruhiger. Als die rechte Sandale der Marke Lily, welche Anwar trug, dann genau fünf Meter weiter aufsetzte, trat seine hintere linke
Sandale dabei auf etwas feinen Sand. Anwar rutschte aus. Hätte er doch nur die Schwerkraft ihre Arbeit machen lassen, dann wäre sein Schicksal vielleicht besser verlaufen. Aber Anwar kämpfte gegen sie an, und als er so taumelnd sein Gleichgewicht wiederzufinden versuchte, stieß er mit einer Frau zusammen, die gerade aus der Einmündung einer kleinen Straße hinter den beiden Metrominis kam.

Anwars Hand landete auf der Brust der Frau. Gleichermaßen erschrocken schrien beide auf. Immer noch völlig erschöpft rutschte Anwars Hand nun auf die Hüfte der Frau.

„Taschendieb!”, schrie die Frau.

Verwirrt lächelte Anwar.

„Verdammter Kerl”, rief einer von etlichen Männern, die in einer Gruppe am Straßenrand herumsaßen.

Als die Gruppe von Leuten auf ihn zukam, begann Anwar zu weinen. Er vermisste plötzlich die Hühnersuppe und die Fleischbratlinge seiner Mutter, die Geschichten seines Vaters und das Lächeln seiner Heiratskandidatin, die er noch nie
getroffen hatte.

Lena Mareta sah den ersten Schlag nicht, der auf Anwars Kopf traf. Da saß sie schon im Taxi. Genau drei Sekunden nachdem Anwar mit ihr kollidiert war sah sie das Taxi, winkte es heran und öffnete die Tür. Natürlich war sie immer noch schwer genervt,
weil eine unerwünschte Männerhand auf ihrem Körper gelandet war. Aber es gab da etwas noch unangenehmeres, weshalb sie schnell von diesem Ort verschwinden wollte.

„Darf man hier rauchen?”, fragte Lena.

„Darf man nicht”, sagte der Taxifahrer, dessen Augen Lena im Rückspiegel beobachteten.

Lena öffnete das Fenster und zündete ihre Zigarette an. Eigentlich wäre es so ein erfreulicher Tag gewesen, wenn nur dieses kleine Milchgesicht nicht alles kaputt gemacht hätte!

Lena hatte sich wirklich auf diesen Tag gefreut. Sie hatte sogar einen Tag Urlaub dafür genommen. Morgens hatte sie gebadet und nach dem Mittagessen noch einmal. Sie schminkte sich nicht sonderlich gerne, aber sie liebte es, ihre Nägel zu lackieren. Darum öffnete sie nach dem zweiten Bad ihre Kiste mit Nagellack. In vier Reihen waren jeweils zehn Farben pro Reihe angeordnet. In der erste Reihe:
Guavenpink, Zwiebelrot, Blutrot, Japanrot, Jakartarot, Himbeersiruprot, Menarcherot, Weinrot, Betelspeichelrot und Jokerlippenrot. In der zweiten Reihe: Taubeneiblau, Samuraiblau, Winterhimmelblau, Chelseytrikotblau, Blutergussblau, Knutschfleckblau, Grünblau, Lapislazuliblau, Tintenblau und Stonewashedblau. In der dritten Reihe: Sonnenblumengelb, Duriangelb, Reishalmgelb, Moosgrün, Kurkumaorange, Pontianakorange, Ziegelbraun, Teebraun, Eierschalenweiß und Marmorweiß. In der vierten Reihe: neun Flaschen so schwarz wie die Haare von Joan Jett, und eine mit glänzendem Klarlack. Lena entschied sich für letztere.

In der Nacht zuvor war Jamal, Lenas Freund, von einer dreiwöchigen Reise zur Besteigung des Elbrus in Russland zurückgekommen. Lena hatte es nicht geschafft ihn abzuholen. Sie hatte dann eigentlich schon am Morgen in sein Haus nach Cempaka Putih kommen wollen, hatte sich aber beherrscht, weil Jamal sagte, da werde er bestimmt noch schlafen.

Lena und Jamal waren schon seit vier Monaten zusammen. Sie hatten schon neunzehn Mal zusammen geschlafen. Bereits nach zwei Monaten war Lena eigentlich klar, dass sie in vieler Hinsicht nicht zu einander passten. Nicht wegen
Jamals Alter, der gerade mal 21 war, sechs Jahre jünger als Lena, sondern weil Gespräche mit ihm einfach nicht inspirierend waren. Für Lena war Jugend kein Grund, dass jemand immer weiter nur herumblödeln durfte. Aber Jamal enttäuschte sie dafür nie bei dieser anderen wichtigen Sache, die Lena auch weiterhin mit ihm genießen wollte.

In Jamals Zimmer lief zunächst alles so, wie Lena es sich vorgestellt hatte. Aber sie freute sich zu früh. Lenas Hände, die gerade auf dem Rücken ihren BH lösen wollten, erstarrten, als sie Jamal sah, der schon nackt auf dem Bett saß und mit der rechten Hand über sein Ding wedelte wie ein Schaffner beim Einweisen.

„Fräulein Lena, sie haben diese drei hier schon oft getroffen, wurden einander aber noch nie offiziell vorgestellt. Dies sind John, George und Ringo”, sagte Jamal lachend, während er auf seinen Schwanz und den linken und rechten Hoden zeigte.

„Und wo ist Paul?”, fragte Lena grinsend.

„Was meinst du?”

„Warum ist er nicht mit dabei?”

„Ich hab eben nur zwei Eier, Lena.”

„Warum steht er dann nicht im Mittelpunkt?”

„Paul war es, der diese Band zerstört hat!”

Sie stritten. Lena fühlte sich gekränkt. Für sie hätte es ohne Paul McCartney keine Beatles gegeben, wie toll auch immer John Lennon gewesen sein mochte. Lena hatte sich wegen Paul in die Beatles verliebt. Als sie noch klein war und um ihren verstorbenen Vater trauerte, hatten die ruhigen Beatles-Songs von Paul ihr Trost gebracht. Es war ja nicht so, dass sie John nicht mochte, sie respektierte ihn sogar sehr, aber ihre erste Liebe blieb immer Paul. Darum konnte sie Jamals Schmähungen
gegen Paul nicht akzeptieren. Als Jamal trotz seiner geistigen Schwerfälligkeit merkte, dass dieser Streit zwecklos war und er sich wieder vertragen wollte, damit sein John nun wirklich auch in den Kampf ziehen konnte, da war es schon zu spät. Lena hatte
resigniert und verließ das Zimmer.

Erst nachdem sie die zweite Zigarette aufgeraucht hatte, lächelte Lena leicht. Warum rege ich mich so auf ? Würde es Paul nicht viel mehr beleidigen, wenn dieser Rotzlöffel sein Ding nach ihm benannt hätte? Lena wollte zurückgehen, aber ihr Stolz hielt sie zurück.

„Nach Ragunan bitte, zum Zoo”, sagte Lena schließlich. Anfangs hatte sie nur „Fahren Sie!” zu dem Taxifahrer gesagt.

„Es ist schon spät.”

Lena antwortete darauf nicht, sodass der Fahrer sich nicht traute, noch etwas zu sagen.

Neben Pauls Liedern brachte es Lena seit ihrer Kindheit auch immer Trost und Geborgenheit, die Tiere im Zoo zu betrachten. Früher war ihr Lieblingstier der Tapir gewesen, weil er zwischen den Tierarten so schwer einzuordnen war. Ihre Mutter konnte ihr damit ebenso wenig helfen wie die weitere Verwandtschaft. Der Tapir faszinierte Lena auch, weil er ziemlich faul wirkte. Als sie erwachsen wurde, konnte sie dann problemlos den Wissensdurst ihrer Kindheit stillen und Tapire interessierten sie bald nicht mehr. Heute mochte Lena Giraffen, aus einem ganz bestimmten Grund: Giraffen haben keine Stimmbänder. Solch ein langer Hals, und doch so still.

Der Taxifahrer hatte nicht ganz Unrecht gehabt, als er sagte, es sei schon spät, denn der Kartenverkäufer in Ragunan sagte das Gleiche. Es blieben nur noch 40 Minuten. Das störte Lena nicht. Sie wollte nur die Giraffen anschauen, deren Gehege nicht weit vom Eingangstor entfernt war.

Der Spätnachmittag war durch die Wolken dunkler als sonst. Nach zehn Minuten langweilte Lena sich bereits. Als sie aufbrechen wollte, zog eine Frau – vielleicht um die 70, dachte Lena – ihre Aufmerksamkeit auf sich. Immer wieder schaute die Frau abwechselnd in den Himmel und auf den Strauch vor ihr.

Lena wusste nicht, dass die alte Frau gerade ihr Wissen über meteorologische Botanomantie prüfte, die Vorhersage von Wetterphänomen durch die Analyse der Bewegungen von Pflanzen. Das ist eine schwierige Wissenschaft, sogar für Frauen, die bereits Fructomantie beherrschen, also die Deutung von Formen, Bewegungen und Reaktionen von Früchten, oder Dendromantie, die Deutung von Bäumen, oder Phyllomantie, die Deutung von Blättern, und Xylomantie, die Deutung von Stamm
und Astwerk eines Baumes.

Lena starrte sie ununterbrochen an, weil das Gesicht der alten Frau sie an jemanden erinnerte. Zuletzt fasste sie sich ein Herz.

„Frau Reni?”

Die alte Frau lächelte. „Nein, ich bin Esti. Reni ist meine Zwillingsschwester.”

Lena ging zu ihr und küsste Estis Hand. Sie hatte nicht erwartet, jemals die Zwillingsschwester der Frau zu treffen, die so bedeutend für ihre Familie gewesen war. Vor zwanzig Jahren, als Lenas Mutter einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, war es Frau Reni aus Semarang gewesen, die sie mit einer Mischung aus Kräutermedizin und Massagen geheilt hatte.

„Hey Lehrer, deine Geschichte ist wirklich voller Zufälle!”

Der Mann, der Lehrer genannt worden war, lachte auf seinem Stuhl laut auf. Ich saß neben ihm und lachte mit. Vor uns saßen fünf oder sechs seiner Schüler. Ich sage das so ungenau, weil der Lehrer mir vorher erzählt hatte, dass von sechs
Leuten, die bei ihm das Schreiben von Texten lernten, einer zwar offiziell eingetragen, bisher aber nur ein Mal in zwölf Sitzungen gekommen war, während eine andere nicht eingetragen und einfach auf Einladung eines Freundes mitgekommen war, sogleich die Gutherzigkeit des Lehrers ausnutzte und seit der zweiten Woche nun gratis weiter den Unterricht besuchte.

„Wart ihr das nicht, die gesagt haben, dass Zufälle im realen Leben durchaus mal passieren können?”, fragte der Lehrer, nachdem das Lachen verebbt war.

Auf dem Weg hierher zu unserem Treffen hatten die sechs lang und breit geredet – oder eher gelästert – über einen jungen Mann, Sänger einer Punk-Band, der früher mit einer von ihnen verbandelt war. Angefangen von den Liedern, die er mochte und spielte, bis hin zu, ja wirklich, der Farbe seiner Haut, die während seiner Liebschaft hell strahlte und nach dem Aus wieder dunkler wurde. Sie wussten nicht mehr, wer damit jetzt angefangen hatte. Aber keiner von ihnen hatte erwartet, was dann geschah. Als ihr Wagen an einer roten Ampel anhielt, stoppte links von ihnen ein Motorrad. Einer unter ihnen drehte zufällig seinen Kopf dorthin und schrie sofort erschrocken auf, weil er niemand anderen sah als den jungen Mann, über den sie
gerade redeten.

Der genau Ablauf dieses Ereignisses war eigentlich noch länger, aber grundsätzlich wollten sie in ihren eigenen Geschichten nun Zufälle verwenden dürfen. Der Lehrer lächelte und sagte, er wolle eine Geschichte entwerfen, in der hier und da einige Zufälle geschahen, und seine fünf oder sechs Schüler sollten danach bewerten, ob diese wirklich gut sei.

An dieser Stelle würde ich nun gerne schreiben, dass der Lehrer nach dem Protest seiner Schüler tief Luft holte, die Augen zusammenkniff, das Flüstern des Windes und die Vögel in der Ferne hörte und dann mit dieser Geschichte begann. Ich will diesen Lehrer cool aussehen lassen, weil er sich genau darum schon lange bemühte – mit gefärbten Haaren, einem Ohrring im linken Ohr sowie Schuhen und Hut, die aufeinander abgestimmt und von gleicher Farbe waren –, aber er war dabei völlig erfolglos. Doch diese Beschreibung ist jetzt egal, wir waren nun in einem Café in Senayan City. Was wirklich geschah war: Der Lehrer bat um zwei Stunden Zeit für diese Geschichte, seine Schüler nahmen diese Pause freudig an und gingen Inception gucken. Ich ging mit ihnen.

„Und, wie ging es dann weiter, Lehrer?”

„Zufälligerweise möchte ich, dass ihr die Geschichte weitererzählt.”

Die sechs Leute murrten, befolgten aber seine Anweisung. Drei von ihnen arbeiteten an ihren Laptops, während die verbleibenden auf Papiertüchern herumkritzelten, die zufälligerweise dick genug waren, um darauf zu schreiben. Nach zwanzig Minuten gab einer von denen, die auf Papiertüchern schrieben, sein Werk dem Lehrer. Ich las über seine Schulter mit.

Hier ist die Geschichte.

„Anwar, los, mach dich bereit!”

Anwar Sadat zitterte. Er wollte wirklich nicht in diesem Graben neben der Hauptstraße hocken. Aber seine Freunde drängten ihn dazu. Einer hielt ihm eine Zwille hin, ein anderer machte neue Geschosse aus Tonerde. Die Kinder aus Anwars
Dorf hatten gerade ein neues Spiel für sich entdeckt – vorbeifahrende Autos mit ihren Zwillen zu beschießen. Wenn ein Fahrer oder Beifahrer sich erschrak, machte sie das wirklich froh. Und noch viel froher erst, wenn ein Fahrer mal wütend wurde
und ausstieg, um sie zu jagen.

Anwar war mitgegangen, weil er es Tamsi versprochen hatte, dem Jungen, der ihn dazu gebracht hatte sich in diesem Graben zu verstecken, damit der ihn dafür dann in der Schule beschützen würde. In den beiden ersten Grundschulklassen war Anwar immer Ziel des Spottes seiner Mitschüler gewesen, weil er stark übergewichtig war. Es war dieses Versprechen des schlanken Tamsi, welches Anwar den Mut aufbringen ließ, selbst nun auch eine Zwille in die Hand zu nehmen.

Nach nicht einmal drei Minuten waren alle Kinder bereit. Als ein Wagen, ein Impala, aus Richtung Norden auf sie zukam, klopfte Tamsi Anwar auf die Schulter, um ihm damit zu sagen „jetzt bist du dran”.

Mit zusammengekniffenen Augen schoss Anwar. Die Tonkugel traf genau die rechte Seite der Brille des Fahrers. Der Schuss verletzte ihn zwar nicht, jagte dem Mann aber einen Riesenschrecken ein, während er ja das Steuer in der Hand hatte. Es gab ein lautes Krachen, dann keinerlei Stimmen mehr aus dem Wageninneren. Nachdem sie zehn Sekunden lang wie angewurzelt dagestanden hatten, liefen die Kinder in alle Richtungen auseinander. Tamsi zog Anwar an der Hand, der immer noch wie versteinert dastand.

Der Mann am Steuer war blutüberströmt, seine Stirn zertrümmert. Die Frau hatte ein
bleiches Gesicht und war ohnmächtig, während das Mädchen bei Bewusstsein war und weinte. Das Mädchen hieß Lena Mareta.

Quelle: Yusi Avianto Pareanom: Grave Sin #14 And Other Stories. English translations by Pamela Allen
German translations by Jan Budweg, Nele Quincke, Susanne Ongkowidjaja. Jakarta, 2015
Raden Mandasia Si Pencuri Daging. Banana Publishing, Jakarta, 2016, S. 119-136
;

© Yusi Avianto Pareanom, Jan Budweg

Yusi Avianto Pareanom: Raden Mandasia, der Rindfleischdieb (Auszug)

Tabassum, S. 336f

Ich musste schlucken, als ich das hörte. Bevor wir das Königreich von Gerbang Agung erreichten, hatte Loki Tua uns schon gewarnt, dass die Einheimischen dort die merkwürdige Vorliebe hätten, die Todesstrafe an ihren Gefangenen zu vollstrecken. Es gab viele Varianten, häufig noch viel unappetitlicher als die, von der wir heute Zeuge wurden. Einige wurden dazu verurteilt, in einer hohlen eisernen Skulptur eines Stieres eingeschlossen zu werden, unter der man dann ein Feuer anzündete. Andere wurden in einem riesigen Topf auf niedriger Flamme gekocht. Wieder andere wurden von vier Pferden über den Boden geschleift, bis sie in Stücke gerissen wurden. Oder die Gefangenen wurden Hunden zum Fraß vorgeworfen, die man tagelang hatte hungern lassen. Anderen wurde auf eine sehr ausgefeilte Weise der Kopf zertrümmert, nämlich indem man speziell dafür trainierte Adler aus großer Höhe Schildkröten auf die Gefangenen herabwerfen ließ – solch ein Tod wurde zumeist Unterhaltungskünstlern zu Teil, denen es nicht gelungen war den König und die Großen des Landes bei einem Staatsbankett zum Lachen zu bringen. Wieder andere wurden entblößt an einen Pfosten gebunden. Dort wurden sie von mindestens drei Zwergsklaven zu Tode gebissen. Diese hatten den Befehl erhalten, bei den Hoden zu beginnen. Bei dieser letzten Todesart fällt es mir schwer zu entscheiden, wer das schlimmere Los hat, der baldige Leichnam oder die Henker. Sabadus blutüberströmter Körper hatte schon einige Knochenbrüche erlitten und wurde nun erneut auf das Gerüst getragen. Ohne lange zu warten warf man ihn wieder herab, diesmal in Richtung eines großen runden Steins auf der rechten Seite unterhalb des Vorstands. Das Geräusch seines brechenden Genicks sagte uns, dass wir ihn nie wieder weinen hören würden.

S. 338 Der Offizier umkreiste uns drei und blieb dann vor meinem Gefährten Loki Tua stehen. Er griff in Loki Tuas Korb nach einem noch ungeschälten, gekochten Ei und nahm es heraus. Die Eier hatte mein Freund heute früh auf dem Markt erworben. Sie stammten von den Gänsen mit Silberkamm, einer besondere Rasse des Königreichs Gerbang Agung. Den Eiern wurden bestimmte Eigenschaften nachgesagt, abhängig von der Jahreszeit, in der sie von den Gänsen gelegt wurden. Um in den Genuss dieser Wirkungen zu kommen, mussten die Eier gekocht werden –  in Salzlake, hart- oder weichgekocht -, jedoch nicht als Omelett oder Rührei gebraten. Ein gekochtes und im Sommer gelegtes Ei dieser Silberkammgänse, wie es der Offizier nun in der Hand hielt, soll ein Gefühl der Freude und die Motivation zum Wettbewerb hervorrufen. Ein Herbstei bewirkt ein Verlustgefühl und den Wunsch traurige Lieder zu komponieren. Die Menschen glauben, dass Wintereier das Begehren nach Paarung entfachen. Von dem Genuss eines Frühlingseis ist jedoch abzuraten, obwohl es in Salzlake ausgesprochen schmackhaft und die Konsistenz des Eigelbs eine Besondere ist. Denn es kann das Verlangen gewalttätig zu werden entzünden und sogar das Bedürfnis, jemanden zu ermorden – insbesondere jemanden aus der eigenen Familie.

Übersetzung von Gudrun Ingratubun aus: Yusi Avianto Pareanom: Raden Mandasia Si Pencuri Daging. Banana Publishing, Jakarta, 2016, Kap. 10, S. 336-338;

© Yusi Avianto, Gudrun Ingratubun

Agus Sarjono: Regentränen

Ziel bitte nicht mit mir auf Menschen,
fleht das Gewehr und versucht sich loszureißen.
Lass mich! fährt die Hand es an.
Ich muss diese Demonstranten in die Luft jagen.
Aber das sind doch alles junge Leute!
Schau dir die Kindergesichter doch an.
Und schließlich demonstrieren sie auch für
deine Belange.  Du hast dich doch auch
stets darüber beklagt, dass dein Sold
nicht ausreicht, dass du dich so plagen musst
für jeden Mundvoll Reis.

Ziel bitte nicht mit mir auf Menschen!
bettelt das Gewehr. Schweig, hier
geht es nicht um Menschen,
schreit die Hand, hier geht’s um Politik!
Ein, zwei Opfer, das ist Teil der Strategie.
Aber jetzt geht’s doch ums Prinzip
und nicht um Zahlen. Hier geht es um
trauernde Mütter, um Vernichtung
von Leben, um die Zukunft unterdrückter
Menschen. Schweig, du bist nur ein Werkzeug,
ein Mittel zum Zweck, und das Recht
auf eine Meinung hast du nicht. Ein solches Recht
haben nur die Volksvertreter, dort im Parlament.

Aber die denken doch nur an sich,
entgegnet das Gewehr, und du bist denen
ganz egal, genauso wie die Demonstranten,
und für die Armen und die Unterdrücken
haben diese Leute nie etwas getan.
Sie handeln nur im eigenen Interesse.
BUMM! Das Gewehr fährt zusammen.
Nein, tu es nicht!
BUMM … BUMM … BUMM … Das wär’s, sagt die Hand.

Musste das wirklich sein,
stöhnt das Gewehr.
Ich weiß nicht,
murmelt die Hand. Ich bin müde.
Ich muss mich ausruhen. Hoffentlich
geht’s meiner Frau
und meinen Kinder gut zu Hause.

Und das Gewehr verwandelt sich
in eine Wolke. Und lässt
Tränen regnen. Und hört nicht mehr damit auf.

Quelle: Agus Sarjono: Gestatten, mein Name ist Trübsinn. Aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser. regiospectra Verlag, Berlin 2015, S. 93

© Agus Sarjono, Berthold Damshäuser

Agus Sarjono: Demokratie der Dritten Welt

Du musst demokratisch sein!
Jaja, schon gut, aber zieh doch bitte
die geballte Faust von meiner
Schläfe zurück. Du hast doch …
Halt’s Maul! Ob ich meine Faust balle,
in der Hosentasche verberge,
oder dir damit auf die Nase schlage,
ist allein meine Sache.
Werd du erst mal demokratisch!
Nur darum geht es hier, also um dich
und keinesfalls um mich.

Natürlich, ich bin einverstanden,
und ich hab es doch bereits versucht . . .
Schluss jetzt! Deine Ausreden
 interessieren mich nicht. Jetzt
verschwende keine Zeit,
denn ich befehle dir, demokratisch zu sein.
Basta! Und sei dir über eins im Klaren:
die demokratischen Horden,
die ich mobilisiert habe,
werden dich sonst
niedermachen und vernichten.
Also los, werd demokratisch!
Wehe dir, wenn nicht!

Quelle: Agus Sarjono: Gestatten, mein Name ist Trübsinn. Aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser. regiospectra Verlag, Berlin 2015, S. 95

© Agus Sarjono, Berthold Damshäuser

Agus Sarjono: Celan

Im blutenden Herz der Geschichte
stieß ich auf Paul Celan. Er lehrte die Mutter
der Zeit und auch die Saat der Nacht zu gehen.
Doch hemmte die Zeit und die Nacht
eine Flut schwarzer Milch.
Darin trieben leidvoll die Leichen von Frauen
mit aschenem Haar. Die Schärfe jener Axt,
das ist der Herzog der Leere!
Der vermählt den güldenen Tod
 mit liebenden Lippen, die Leiche der Lust
mit der Gruft allen Lachens,
die schlanken Hüften des Leids
mit roten Wangen des Lebens,
er flicht sie zu Paaren,
so wie er das verwebt, was nicht dein Aug,
was auch nicht meines, auch nicht seines,
er fügt’s aneinander im Flechtwerk
des wehenden Tuches,
das düster ist, dunkel
wie Mohn und Gedächtnis.

Arme Mutter, die nicht heimkam,
die Stammverwandten sind verbrannt,
sie haben ein Grab in den Lüften,
sie bohrten den Brunnen der Schmerzen
im Herzen der Erinnerung, darin die Schuld
in schwarze Milch sich wandelte,
geschöpft von dem, der übrigblieb,
dem, der entkam um Glückes willen.
War es so schwer Geretteter zu sein?
War alles Leid getilgt,
als mit der schönen Geliebten
der Leib geteilt
und Lust getauscht ward,
mit jener Nachfahrin der Bauern,
die auf Kummeräckern
Leiber pflanzten, Seelen jäteten?

Ein trauriger Vogel schwirrt einsam,
seine Flügel sind Erinnerung, aschen
und schwer, furchtsam flattert er,
hin und her, bald im Goldhaar der Geliebten,
bald in den langen aschenen Haaren
am toten Leib der Mutter.
Haare, die fesseln: wie ein Fallstrick,
straff gespannt,
bis hinein in jeden Grabeswinkel.

Quelle: Agus Sarjono: Gestatten, mein Name ist Trübsinn. Aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser. regiospectra Verlag, Berlin 2015, S. 58

© Agus Sarjono, Berthold Damshäuser

Agus Sarjono: Leserbrief

Verehrte  Redaktion, gestatten Sie mir,
Ihnen eine Beschwerde zu übermitteln,
nebst  einigen  Anregungen. Die Kraniche
am Seeufer stehen nun schon neun Nächte lang
einsam, allein und einbeinig herum, so dass die
Frösche und Fische trotz Vollmonds
auf ihr Liebesspiel verzichten.

Und am Feldrand steht eine Blume,
traurig und einsam, schon seit neun
blinzelnden Blicken, genau dort,
wo der Weg in den Wald abbiegt.
Welche Verschwendung ihrer lila Blütenpracht,
denn niemand nimmt Notiz,
dabei schminkt sie sich
allmorgendlich mit frischem Tau.

Ich rege an, den melancholischen
Mondschein, der sich widerspiegelt auf dem Teich,
anzuvermählen jener jungen Hirschkuh,
die am Waldrand immer noch so traurig sinnt,
obwohl die Jäger schon vor Wochen
das Aas des Hirschbocks weggeschafft,
der unter ihren Kugeln tot zusammenbrach.

Soweit mein Schreiben,
möge es nutzbringend sein,
für Ihre Leser,
aber auch für das Schmetterlingspärchen
das in meinem Zimmer gefangen ist,
immer wieder gegen die Fensterscheibe prallt,
wo doch draußen
allerschönstes Wetter herrscht.

Quelle: Agus Sarjono: Gestatten, mein Name ist Trübsinn. Aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser. regiospectra Verlag, Berlin 2015, S. 18

© Agus Sarjono, Berthold Damshäuser

Agus Sarjono: Bewerbungsschreiben

Gestatten, mein Name ist Trübsinn,
mit ein paar Spritzern guter Laune.
Ich bin geschickt im Management
von Kummer, allen Sachverhalten,
die man nicht verdrängen kann,
zudem im Verwalten von Melancholie.
Das wäre mein Hauptarbeitsfeld.

Um Angelegenheiten wie innere Leere,
um den Eindruck, alles umsonst zu tun,
kümmre ich mich gerne in Überstunden.
Das Entgelt dafür wäre:
ein Schälchen Abendrot
mit einer dünnen Schicht von Purpur.

Mir ist es ernst mit dieser Bewerbung,
ich rechne mit Einstellung.
In der Anlage füge ich bei:
die Spuren einer alten Wunde,
beißend, unvergänglich,
aus namenloser Trauer rührt sie her.

Quelle: Agus Sarjono: Gestatten, mein Name ist Trübsinn. Aus dem Indonesischen von Berthold Damshäuser. regiospectra Verlag, Berlin 2015, S. 17

© Agus Sarjono, Berthold Damshäuser

Taufiq Ismail: Werdet Zeuge, wie so viele Menschen Geld vergöttern

Wir leben in Zeiten, in denen Geld wie Gott verehrt wird
Mit Geld werden zwischenmenschliche Beziehungen gemessen und bestimmt
Autos, Grundbesitz, Erspartes, Beziehungen und sozialer Rang
Politik, Ideologie, Macht, das alles wird als Gott angebetet
Die Dominanz des Materiellen ersetzt Gott
Deshalb ist die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unreinem nicht mehr deutlich
So als ob man einen weißen und einen schwarzen Faden unterscheiden möchte
In einem dunklen Wald
Um ein Uhr nachts
Wenn 17 von 33 Ministerpräsidenten verdächtigt werden
Sind das insgesamt 52 Prozent
Wenn 147 von 473 Landraten und Bürgermeistern verdächtigt werden
Sind das insgesamt 36 Prozent
Wenn 27 von 50 Mitglieder der Haushaltskommission festgenommen werden
Sind das insgesamt 62 Prozent
Werdet Zeuge, wie so viele Menschen voller Inbrunst Geld anbeten
Gels wird als Idol verehrt, vergöttert, geheiligt, verherrlicht
Recht und Ordnung werden ungehindert mit Füßen getreten

2010, 2011

Quelle: Taufiq Ismail: Staub auf Staub. Übersetzt von Edwin P. Wieringa, Carsten U. Beermann; Horison Verlag (Indonesien), 2015, S. 294

© Taufiq Ismail, Edwin P. Wieringa, Carsten U. Beermann

Taufiq Ismail: Es fließt, es läuft

Und so fließen Tränen aus meinem rechten Auge
Weil ich mich an 6 junge Boxer erinnere
Die beim Training und bei Wettkämpfen in meinem Land gestorben sind
Nicht viele Leute wollen davon etwas wissen
Und wer es weiß, vergisst es einfach

Dann fließen Tränen aus meinem linken Auge
500 amerikanische Boxer, so teilt das Magazin Ring mit
Sind in den ergangenen 70 Jahren beim Boxen gestorben
Alle fünfzig Tage stirbt einer
Darüber berichten will die Presse jedoch nicht

Ich fühle, wie Schnodder aus meinem linken Nasenloch läuft
Ich schnäuze ihn vor den Eingang des Madison Square Gardens
Die WBC und WBA sind ein Nonsens von gigantischem Ausmaß
Wie kann das Sport sein, tatsächlich ist es Menschenkampf
Wir, ein Land mit Minderwertigkeitsgefühl, haben uns lange austricksen lassen

Dann läuft Schnodder aus meinem rechten Nasenloch
Ich wische es mit einer Morgenzeitung ab, auf der ein Bild von Don King ist
Mister Hochstehhaare, Riesenbetrüger, Mörder und Bandit durch und durch
Zu seinen Füßen knien die Boxer und Promoter eines ganzen Landes
Millionen veruntreute Dollar landen in der linken Innentasche seines Jacketts.

1989

Quelle: Taufiq Ismail: Staub auf Staub. Übersetzt von Edwin P. Wieringa, Carsten U. Beermann; Horison Verlag (Indonesien), 2015, S. 259

© Taufiq Ismail, Edwin P. Wieringa, Carsten U. Beermann